Kein Pardon: Tanzen!

■ Das Heimatklänge-Festival 1992: Zehn Bands sorgen für karibische Nächte an der Spree — mit Volksmusik im Weltformat

Reicht das Urlaubsgeld wieder einmal nur für zwei Wochen Ostsee? Kein Grund, Trübsal zu blasen. Schließlich kommt am 1.Juli für ganze zwei Monate ein Stück Karibik nach Berlin, ohne daß wir auch nur einen Pfennig dafür bezahlen müssen. Sponsoren machen es möglich. Die Palmen sind zwar nur Linden, aber die elf afro-karibischen Bands werden heftig einheizen. Ob Merengue aus der Dominikanischen Republik, Reggae aus Jamaica, Rara aus Haiti oder Soca aus Trinidad — selbst ausgemachten Tanzmuffeln dürfte das diesjährige Festival Heimatklänge zumindest ein dezentes Fußwippen entlocken.

Eröffnet wird die Reihe von der kolumbianischen Sängerin Toto La Momposina und ihrer Perkussionband. Sowohl die Rhythmen als auch der Gesang verraten deutlich die afrikanischen Wurzeln dieser Musik. »Im Herzen unserer Musik«, so Toto La Momposina, »steht der Rhythmus der Trommeln, der beständig um uns ist und an dem jeder im Dorf teilnimmt, egal ob jung oder alt, schwarz oder weiß.« Toto La Momposina sieht sich selbst als Vertreterin einer Musiktradition, die zunehmend von der Verwässerung durch nordamerikanische Einflüsse bedroht ist. Sie hat sich ebenso der Live-Musik verschrieben wie das Orchestra Cumbre De Pinar Del Rio, aus der kubanischen Provinz. Die Visitenkarte zeigt Vielfalt und Kompromißbereitschaft: die 15köpfige Salsa-Truppe ist als Conga-Quartett zu mieten, als Begleitband oder ganzes Orchester. Lediglich in einem Punkt kennt sie kein Pardon: Die Leute müssen tanzen!

Rico Rodriguez aus Jamaica wollte eigentlich Saxophon lernen. Die katholische Besserungsanstalt in Kingston konnte ihm jedoch nur eine Posaune zum Üben zur Verfügung stellen. Rodriguez blieb bei diesem Instrument und schuf Jahre später, nach seiner Übersiedelung nach London, eine ganz eigene, sehr melodiöse Instrumentalversion des Reggae. Seine Auftritte sind nicht nur für eingefleischte Reggae-Fans eine Chance, eine hier vergleichsweise unbekannte Facette des Reggae-Spektrums kennenzulernen. Die Trojans, die sich die Abende mit Rodriguez teilen werden, kommen auch aus London. Sie lassen nicht nur die eigenen englisch-keltisch-karibischen musikalischen Erbgüter in ihre eigenwillige Musik einfließen, sondern kreuzen sie mit Zutaten aus aller Welt. Die sieben Musiker spieln mit Witz, egal ob sie einen Gospel oder ein russisches Volkslied in ihren Ska- Sound packen.

Ebenfalls als Fusionist versteht sich Victor Roque mit seiner vierzehnköpfigen Band La Gran Manzana. Roque hat sich dem Merengeue verschrieben, diesen aus der Dominikanischen Republik nach New York mitgenommen und dort mit den Rhythmen der Großstadt zusammengebracht. für die zwölf MusikerInnen von Rara Machine ist bereits der Name ein Programm. Sie kamen von Haiti nach New York und verbinden die traditionelle haitianische Tanzmusik Rara mit der High- Tech-Welt New Yorks. Daß letztere nicht unbedingt totschlagen muß, daß sich Voodoogesänge mit E-Gitarren und traditionelle haitianische Instrumente mit Jazzakkorden kombinieren lassen, wollen sie Ende Juli dem Berliner Publikum beweisen.

Auch die Musik der beiden Knopfakkordeonisten Alfredo Gutierrez und Francisco Ulloa ist das Ergebnis einer Fusion. Diese hat jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden, als das Akkordeon von Europa nach Lateinamerika kam und dort zum festen Bestandteil der einheimischen Musik wurde. Wie sich das Knopfakkordeon in der traditionellen Tanzmusik Nordkolumbiens oder der Dominikanischen Republik anhört, werden die beiden Akkordeonisten mit ihren Bands an sechs gemeinsamen Abenden demonstrieren.

Der jüngste Teilnehmer des Festivals ist der 17jährige Soca-Star Machel Montana. Mit seiner Band Xtatik, die er bereits im zarten Alter von neun Jahren gründete, hat er bereits alle Auszeichnungen eingeheimst, die man in der Karibik im Soca erhalten kann. Auch seine Musik zielt vor allem auf die Beine.

Geradezu ein Veteran der afrokubanischen Musik ist dagegen Mario Bauza. Der mittlerweile 81jährige Bandleader, der mit Jazz-Größen wie Charlie Parker und Dizzy Gillespie zusammengearbeitet hat, hat den Einzug afrokubanischer Musik in den US-amerikanischen Jazz wesentlich mitgetragen. Die Rumbas und Cha-Cha-Chas, die er mit seinen zwanzig Musikern auf die Bühne bringt, klingen noch heute alles andere als großväterlich.

Deutlich jünger sind die 16 Mitglieder von Kassav, eine Gruppe, die sich überwiegend aus Musikern aus Martinique zusammensetzt. Ihre Musikmixtur aus afrikanischen, karibischen und schwarzamerikanischen Elementen füllt nicht nur in ihrer Wahlheimat Frankreich, sondern auch in Afrika die Hallen. Wie den meisten anderen Bands des Festivals auch, ist es ihnen gelungen, die traditionellen Rhythmen und Melodien aus der Folklore-Ecke herauszuholen und zu einer jungen, lebendigen und entwicklungsfähigen Musik zusammenzustellen. Sonja Schock

Toto La Momposina: 1.-5.7., jeweils 21.30 Uhr

Orchestra Cumbre De Pinar Del Rio: 8.-11.7., jeweils 21.30; 12.7.: 16.00 Uhr

Rico Rodriguez/The Trojans: 15.-18.7., jeweils 21.30; 19.7.: 16.00 Uhr

Victor Roque & La Gran Manzana: 22.-25.7., jeweils 21.30; 26.7.: 16.00 Uhr

Rara Machine: 29.7.-1.8., jeweils 21.30; 2.8.: 16.00 Uhr

Alfredo Gutierrez/Francisco Ulloa: 5.-8.8., jeweils 21.30; 9.8.: 16.00 Uhr

Machel Montana & Xtatik: 12.-15.8., jeweils 21.30; 16.8.: 16.00 Uhr

Mario Bauza & his Afro-Cuban Jazz-Orchestra: 19.-22.8., jeweils 21.30; 23.8.: 16.00 Uhr

Kassav: 26.-29.8., jeweils 21.30; 30.8.: 16.00 Uhr