Knochenarbeit in Spoleto

■ Maguy Marin zeigt ihr „Cortex“ auf dem italienischen „Festival der zwei Welten“

Wer den Auftakt des 35. „Festival dei Due Mondi“ in der ersten Reihe miterleben wollte, mußte nahezu 300 Mark auf den Tisch legen. Zwar gab es Donizettis Herzog von Alba lediglich in einer aufgewärmten Visconti-Inszenierung aus dem Jahre 1959, aber das vorwiegend römische Publikum, das das Festival als Theatersommerfrische nutzt, wußte, was es für sein Geld bekam.

Einen Tag später sah die Welt ganz anders aus. Die Tänzerinnen und Tänzer der französischen Choreographin Maguy Marin fielen in Spoleto ein. Während man nach seinen Sitzplätzen suchte, konnte man schon miterleben, wie acht Tänzerinnen und Tänzer Ordnung in ein Chaos aus Einkaufswagen, Orangen, Besen, Äpfeln und Klostopfern brachten. Cortex heißt Maguy Marins neueste und für Italien bearbeitete Choreographie, eine getanzte und sprachlich kommentierte Entwicklungsgeschichte des Homo Sapiens. Offensichtlich schon weit vorangeschritten, produziert er immer noch das Tohubawohu, aus dem angeblich alles kommt und das er vermeintlich längst hinter sich gelassen hat. Die Großhirnrinde ist voluminöser geworden, aber auch der Waren- und Müllberg — es darf aufgeräumt werden.

Wie vor drei Jahren, als Maguy Marin mitten in Frankreichs 200jährige Revolutionseuphorie eine explosive Mischung aus zeitgenössischem Tanz und Weillscher Oper platzen ließ und den Franzosen einen ironischen Abgesang auf ihre Revolution bescherte, beginnt auch ihre jüngste Choreographie mit Knochenarbeit und endet auch damit. Der Mensch hat den aufrechten Gang erlernt, was Maguy Marin in eine fließende Kriech-, Krabbel- und Sprintchoreographie umsetzt, dann wird das vorläufige Ende der Gattung getanzt. Tänzerinnen und Tänzer schleppen sich zu einer rhythmischen Toncollage in genau gezirkelten Bewegungen diagonal über die Bühne, aneinandergekettet wie Galeerenhäftlinge, im Schlepptau eine lange Reihe von Skeletten. Nach dem Zug der Lemminge gehen in Maguy Marins Tanzwelt die Lichter aus, und das gestreßte spolentinische Festivalpublikum darf sich auf die von Mercedes-Benz gesponserten Meistersinger von Nürnberg freuen.

Daß Maguy Marin eine der bedeutendsten europäischen Choreographinnen ist und wesentlich mehr an Ideen, Witz und Ironie anbietet, als manche ihrer Kolleginnen und Kollegen, scheint allerdings spurlos an den Zuschauern vorbeigegangen zu sein. Am Ende des Tanzabends gab es das eindrückliche Gratisschaupiel eines Publikums, das ohne jede Reaktion den Saal verließ. Ein Grund ist sicherlich, daß es in Italien keine Tanzszene wie etwa in Frankreich gibt, wo in der ersten Kulturära Jack Langs viel Geld in Richtung der Tanzensembles floß. Das italienische Publikum hatte bisher kaum die Möglichkeit, zeitgenössischen Tanz mit all seinen Höhen- und Tiefflügen kennenzulernen, Maguy Marins ironisch-provokante Tanzbilder waren für Spoleto also eher ein Versuchsballon in Sachen avantgardistisches Tanztheater. Bleibt abzuwarten, ob man in den nächsten Jahren weiterhin solche Wagnisse eingehen wird. Jürgen Berger

Maguy Marin: Cortex. Choreographie, Bühne und Kostüme: Maguy Marin. Licht: Pierre Colomer. Musik: Denis Mariotte. Mit Ulises Alvarez, Teresa Cunha, Christiane Glik, Jean-Marc Lamena u.a. Eine Produktion des Centre Choreographique National de Creteil et du Val Marne beim Spoleto-Festival, das noch bis zum 12.Juli dauert.