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Das wilde Denken der Aufklärung

Zum 250. Geburtstag von Georg Christoph Lichtenberg  ■ Von Michael Bienert

Wenn Aufklärung heißt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dann war Lichtenberg der konsequenteste unter den Aufklärern. „Zweifle an allem wenigstens einmal, und wäre es auch der Satz: 2 mal 2 ist 4“, war eine seiner Maximen. Nichts hat seine Spottlust mehr gereizt als Dogmatismus, Denkfaulheit, die bequeme Anpassung an Konventionen.

Lichtenbergs Leben fiel in die entscheidenden Jahre der Aufklärung: Am 1.Juli 1742 wurde er als achtzehntes Kind des Pfarrers von Oberramstadt bei Darmstadt geboren; er starb 1799. Sein Vater zählte zu den Anhängern der Physikotheologie, die in den Gesetzlichkeiten der Himmelsbewegungen den Beweis für die Existenz eines vernünftigen Gottes sah. Auch Lichtenberg zog es zu den Sternen. Er studierte Astronomie und wurde vom englischen König zu gemeinsamen Himmelsbeobachtungen und Teestunden nach London eingeladen. Als Professor für Experimentalphysik in Göttingen faszinierte ihn besonders die noch in den Anfängen steckende Elektrizitätslehre. Er suchte nach neuen Anwendungen, experimentierte mit Blitzableitern und ließ kleine Luftballons aus Schweineblasen steigen. Aber je vertrauter ihm die Naturwissenschaft seiner Zeit wurde, desto mehr zweifelte er am göttlichen Bauplan der Natur. 1774 notiert er: „Ich glaube kaum, daß es möglich sein wird zu erweisen, daß wir das Werk eines höchsten Wesens und nicht vielmehr zum Zeitvertreib von einem sehr unvollkommenen sind zusammengesetzt worden.“

Mit solchen Sätzen trennte sich Lichtenberg radikal von dem Denken, in dem er aufgewachsen war. Wissenschaft und Gesellschaft lösten sich nur sehr langsam von der Vorherrschaft religiöser Dogmen; Lichtenberg wagte den Sprung in die Moderne. Ganz leicht ist ihm das nicht gefallen. Er sehnte sich in die Geborgenheit zurück, die eine geschlossene Theorie des Weltganzen vermittelt. Sein Leben lang hat er nach einem Ersatz für die alten Kosmologien gesucht. Dabei machte er die Erfahrung, daß die allgemeine Wissenschaftsentwicklung wie seine eigenen Forschungen nur immer weiter von diesem Ziel abführten. Das Weltwissen fächerte sich in eine Vielzahl von Disziplinen und Theorien auf; er selbst kam über fragmentarische Beiträge zu verschiedenen Sachgebieten — Astronomie, Physik, Psychologie, Philosophie, Ästhetik, Literatur — nicht hinaus.

Alles blieb im Zweifel, aber Lichtenberg zweifelte nicht. Er nutzte die Freiheit, die der Vernunft nach dem Zusammenbruch der metaphysischen Gewißheiten gegeben war. Er wandte sich nicht zu den Formen und Inhalten des alten Denkens zurück wie andere Philosophen der Moderne, sondern entwickelte einen Denkstil, der das Programm der Aufklärung konsequent umsetzte.

Die Vernunft der Aufklärung ist eine bescheidene Vernunft. Sie begreift sich als begrenzt gegenüber einem göttlichen (oder göttlich inspirierten) Verstand, der alles durchdringt. Sie trennt Bereiche, in denen exaktes Wissen möglich ist, von solchen, die nur dem Glauben offenstehen. Sie weiß, daß sie, um zu erkennen, auf das Zusammenspiel mit anderen Gemütskräften angewiesen ist: auf die Sinnlichkeit, auf die Empfindung, auf die Einbildungskraft.

Kant, an dessen Philosophie sich Lichtenberg in den letzten Jahren seines Lebens abgearbeitet hat, versuchte, die Leistungen und Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens in ein System zu bringen. Er wollte sicherstellen, daß die Erkenntnistätigkeit in vernünftig geordneten Bahnen verlief. Lichtenberg hingegen bewegte sich völlig frei auf allen Erkenntniswegen, die der aufgeklärten Vernunft offenstanden. Als leidenschaftlicher Experimentator wußte er, daß man vielerlei ausprobieren muß, um zu neuem Wissen zu gelangen.

Die Zeitgenossen kannten Lichtenberg als Verfasser sprühender Spott- und Streitschriften sowie populärwissenschaftlicher Abhandlungen; erst nach seinem Tod wurden die Sudelbücher, sein Hauptwerk, veröffentlicht. Sie sind mehr als ein Steinbruch für Aphorismensammlungen. In ihnen zu lesen, und seien es nur wenige Seiten, durchlüftet den Kopf. Der Leser wird hineingezogen in ein absolut freigelassenes Denken. Jeder Gedanke, der sich ungezwungen einstellt, wird zugelassen, ein Gedankensprung unterbunden, nichts ausgegrenzt. Sprachspiele und wissenschaftstheoretische Reflexionen, psychologische Analysen und Notizen zu physikalischen Problemen lösen einander unvermittelt ab. Spontanes steht neben Durchdachtem, Reflektiertes neben Beobachtetem. Ein überwältigender Ideenschatz wird ausgebreitet: die ganze Welt im Kopf eines unermüdlichen Selbstdenkers.

Es ist eine Gedankenwelt ohne Gedankenkitt. Lichtenberg war nicht in der Lage, die Bruchstücke aus den Sudelbüchern zu der universalen Theorie zusammenzufügen, die ihm vorschwebte.

Aber er begriff, daß er am klarsten dachte, wenn er das wilde Denken in sich einfach gewähren ließ. Seine Sudelbücher sind die Gedankenprotokolle einer selbstbewußten, zum „Irrationalen“ hin geöffneten Vernunft. Sie erliegt nicht der Fiktion, sie könne frei von bloßen Vernunftregeln denken. Um kreativ zu sein, ist Vernunft angewiesen auf Gefühl, Witz, Intuition, Phantasie. Die phantasielose Buchgelehrsamkeit hielt Lichtenberg für genauso gefährlich wie vernunftlose Schwärmerei. Eine Vernunft, die das „Unvernünftige“ ausgrenzt, gerät besonders leicht unter den Einfluß destruktiker Programmierungen des Unbewußten.

Mit den Jahren wurden seine Aufzeichnungen immer skurriler, die Hypothesen, Konjunktive, Spekulationen nahmen immer mehr Raum ein. So notierte er in seinem letzten Sudelbuch: „Theorie der Falten in einem Kopfkissen“. Und 1795 schrieb er in einem Aufsatz über Geologische Phantasien: „Wir, die wir die Monarchie der sogenannten gesunden Vernunft anerkennen, können nicht wissen, wie selig und wie wichtig der Mann ist, der ohne allen Zwang derselben frei für sich denkt. Wir nennen ihn einen Narren, aber das ist ein bloßer Titel; er antwortet uns mit einem Lächeln, und das ist sehr viel mehr.“

Was wäre die Vernunft ohne die Phantasie, fragt Lichtenberg wieder. Die Antwort ist: Nichts. „Wie oft hat sie nicht mit ihrem wilden und rasenden Fluge Ideen aufgejagt, die sich vor dem Falkenauge der Vernunft versteckt hielten, und die diese nachher mit Begierde ergriff.“ Man könnte es auch so sagen: Wo die Vernunft in die Krise gerät, rettet sie nur die Phantasie.

Wer aus dem Zwangskorsett des konventionellen Denkens ausbricht, findet sich leicht in der Rolle des Narren wieder. Lichtenbergs Werk nimmt die Angst, sich in diese Rolle zu begeben. Er war optimistisch, daß die Narren der Aufklärung am Ende Recht behalten: „Die vernünftigen Freigeister sind leicht fliegende Corps, immer voraus und die die Gegenden rekogniszieren, wohin das gravitätisch geschlossene Corps der Orthodoxen am Ende doch auch kommt.“

Zum Lichtenberg-Geburtstag ist eine sehr lesbare Einführung in sein Werk von Rainer Baasner erschienen: Lichtenberg: Das große Ganze. Ein Essay (Schönigh, Paderborn, 19,80DM). Für Juli angekündigt ist ein Essayband zur Darmstädter Jubiläumsausstellung: Wagnis der Aufklärung (380S., ca. 500 Abb., Hanser Verlag, München, 68DM).

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