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Todesstoß ohne Rücksicht&Sinn

■ Ein Stammhörer (West) zum Ende von Dt64 auf Ultrakurzwelle

Im Raum Berlin/Brandenburg wurde das Jugendradio DT64 gestern ausgeknipst. Im Sendegebiet des Mitteldeutschen Rundfunks wird es bis Jahresende auf die Mittelwelle abgeschoben, um die Frequenzen später Privatsendern zu überlassen. Es spricht viel dafür, daß dies den Tod auf Raten für den interessantesten und freundlichsten Radiosender in Deutschland bedeutet.

Seit elf Jahren bin ich Stammhörer. Wie wird erst den Ex-DDRlern zumute sein, die mit dem Sender groß geworden sind, oft die einzige akzeptable Quelle für gute Rockmusik. Das Außergewöhnliche des Senders war immer die breite Musikplatte, mit der nicht nur — wie der Name fälschlich vermittelt — die Jugend angesprochen wird. Auch Techno, Soul, Reggae, Ska, Heavy Metal gehören zum Programm. Kein Sender bringt so viel Pop- und Rockmusik aus deutschen Ost- und West- Landen.

Der Seismograph für Entwicklungen der erstarrten DDR-Gesellschaft bewegte sich oft an der Kante des von der Bürokratie Zugelassenen. Das machte ihn auch für politisch interessierte WesthörerInnen so interessant. Und dann das Profil in der Vor- und Nachwendezeit mit Berichten, Meinungen, Diskussionen. Radiojournalismus, wie man ihn sich wünscht. Und die HörerInnen hängen an ihrem Sender. Wo hat es das gegeben, daß in Deutschland die Leute für den Erhalt einer Radiostation auf die Straße gehen, Staatskanzleien besetzen, Fahrraddemos machen oder Mahnwachen abhalten? Mittlerweile in Ost- und Westdeutschland. 550.000 Unterschriften sind für den Erhalt des Senders gesammelt worden.

Wenn jetzt in Berlin/Brandenburg das Aus für die Power aus der Nalepastraße am Ufer der Spree kommt, dann kann dies nur als der letzte Akt der gnadenlosen Ausführung des Todesurteils für alle DDR-Medien angesehen werden, wie dies der Einigungsvertrag vorsieht, aber ohne Rücksicht auf die Sinnhaftigkeit einer solchen Aktion. In Berlin/Brandenburg teilen sich SFB und ORB die Haut des erlegten Radiogegners.

Die privaten Dudelsender können sich freuen. Eine Meßlatte für gutes Musikprogramm und geistreichen engagierten Journalismus ist in Berlin/Brandenburg verstummt. Doch Tote leben bekanntlich länger. Auf Mittelwelle 1044 KHz sendet DT64 ab heute, vom kleinen Wilsdruff bei Dresden. Vielleicht kann der Sender dort ja überwintern, bis die Medienpolitiker merken, daß Parteiverdrossenheit auch ganz konkrete Gründe haben kann. Jürgen Karwelat

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