US-Kongreß streitet über Abtreibung

Nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs debattieren nun die Abgeordneten/ Gegenaktionen  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Irgendeiner muß ihn vom Footballfeld gepflückt haben: 1,90 groß, Schultern wie ein Wandschrank und ein faltenloses Kindesgesicht. In der Hand ein Schild mit dem Slogan „Stoppt das Töten“, über der Brust ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Frieden beginnt im Mutterleib.“ Montag morgen vor den Stufen des Obersten Gerichtshofs der USA wirkte dieser Abtreibungsgegner allerdings eher frustriert. Denn mit nur einer Stimme Mehrheit (fünf zu vier) hatte das Gericht entschieden, das Recht auf Abtreibung nicht ganz abzuschaffen, sondern es „nur“ bei einigen Restriktionen zu belassen. Gelegenheit zum Demonstrieren wird der junge Mann allerdings noch zur Genüge haben: Gestern befaßte sich erstmals der Justizausschuß des Repräsentantenhauses mit dem „Freedom of Choice Act“. Diese von demokratischen Abgeordneten eingebrachte Vorlage soll das Grundrecht der Frau, über die Fortsetzung ihrer Schwangerschaft selbst zu entscheiden, in Form eines Gesetzes absichern. Dieses Recht war 1973 vom Obersten Gerichtshof im Fall Roe v. Wade formuliert, in den achtziger Jahren aber durch andere Entscheidungen laufend beschnitten worden. Das Gesetz wird voraussichtlich in beiden Häusern noch im Sommer verabschiedet werden. Ein Veto seitens des Präsidenten ist so gut wie sicher. Dies wiederum wird kurz vor den Wahlen erneut Zündstoff geben, denn die Frage, ob und wie weit die Abtreibungsfreiheit abgeschafft oder eingeschränkt werden soll, hat sich zu einem der zentralen Wahlkampfthemen entwickelt. Auch das Lager der Republikaner ist gespalten— den konservativen Abtreibungsgegnern steht eine wachsende Fraktion von „Pro Choice“-AnhängerInnen gegenüber. Mit Sorge dürfte der Präsident gestern auch die aktuellsten Rauchzeichen aus der Zunft der Demoskopen vernommen haben, ein in den USA fast heiliger Berufsstand: Bush liegt hinter Clinton und Perot an dritter Stelle. Bei aller Aufregung über Gerichtsentscheidungen und Gesetzesvorlagen wird jedoch leicht vergessen, daß für Hunderttausende von amerikanischen Frauen das Recht auf eine Abtreibung seit langem außer Kraft gesetzt ist, weil sie keine Kliniken oder Praxen mehr finden. Abtreibungsgegner haben nach der jüngsten Entscheidung des Gerichtshofes angekündigt, ihre Aktionen vor Krankenhäusern und Kliniken verstärken zu wollen. Erst in seiner nächsten Sitzungsperiode wird der Gerichtshof darüber entscheiden, ob es gegen die Verfassung verstößt, Frauen und Ärzten den Zugang zur Klinik zu versperren.

Siehe Kommentar Seite 12