: „Mit oder ohne Boudiaf — das ist kif-kif“
Das Attentat auf den Vorsitzenden des Hohen Staatsrates läßt die Algerier ziemlich kalt/ Hintergrund des Mordes weiter offen ■ Von Oliver Fahrni
Paris (taz) — Ein rühriger westlicher Diplomat verließ Montag mittag, eben war die Nachricht von der Ermordung Mohamed Boudiafs durchgetickert, seine Botschaftsfestung und begab sich auf Inspektionstour in Algiers Volksquartiere, gleichsam in Feindesland. Konsterniert meldete er: „Es herrscht eine kosmische Indifferenz.“ Der Tod des Präsidenten des Hohen Staatsrates ließ in der Hauptstadt allenfalls eine leichte Irritation aufkommen. Die Mittagsgäste in den Restaurants hatten immerhin ein neues Thema. „Mit oder ohne Boudiaf, das ist kif- kif“ — das ist egal, war da zu hören, und hier ein schulterzuckendes: „Na und? Da hast du was zu schreiben...“ Ein islamistischer Hitzkopf mit Dreitagebart vor der Moschee in Kouba faselte: „Ich bin froh, aber der Krieg muß weitergehen, bis die Geiseln Madani und Ben Hadsch befreit sind.“ Nebenan reichten sich Islamisten mit einem ironischen: „Ich kondoliere“ die Hand.
Lediglich ein paar ältere Algerois fragten schmerzlich berührt, wie ein „historischer Kopf“, einer der drei noch lebenden Väter der algerischen Revolution, einfach so ermordet werden konnte. In Bab-el-Oued meinte ein junger Mann: „Alles, was uns passieren kann, ist eine weitere Verschärfung der Repression. Daran sind wir gewöhnt.“ Derweil sprach eine junge Gutgekleidete einem französischen TV-Team ins Mikrophon: „Unser Präsident ist tot. Was soll nun werden?“ Anders als nach der Absetzung von Boudiaf- Vorgänger Chadli Bendjedid war keine Spannung zu spüren, so als hätten die monatelange Repression und die täglichen Attentate Mitgefühl oder Revolte anästhesiert. Dienstag morgen ging alles seinen gewohnten Gang, nur die Polizeipatrouillen und die Straßensperren der Armee waren verstärkt worden.
Die AlgerierInnen reagierten blasiert und gelassen, weil Boudiaf keine Lücke hinterläßt — er war nie wirklich an der Macht, er war lediglich ihr Aushängeschild. General Nezzar herrschte gestern, sagte Radio Trottoir, und wird auch morgen herrschen. Der General rief sogleich das Hohe Staatskomitee und den Sicherheitsrat zu einer Sitzung zusammen — er steht beiden Komitees vor. Er verordnete sieben Tage Staatstrauer und ließ alle Festivitäten für den 30. Jahrestag der algerischen Revolution abblasen. Die für Anfang 1994 versprochenen Präsidentenwahlen sind in weitere Ferne gerückt.
Nezzar hatte die Täter schon ausgemacht: „Islamisten, im Verbund mit abgesetzten FLN-Elementen“, sagte ein Sprecher der Armee, hätten das Attentat geplant. Ein hoher Offizier, der natürlich nicht genannt werden wollte, versprach den Islamisten, „Blut und Tränen. Wir werden hart zuschlagen. Wir werden sie allesamt in die Lager stecken, und keiner wird jemals lebend herauskommen.“ Die These von der islamistischen Verschwörung wurde von den französischsprachigen Intellektuellen begierig aufgenommen. Schriftsteller Rachid Mimouni, der eben für einen Pariser Verlag eine Auftragsarbeit über die „islamistische Barbarei“ verfaßt hat, sprach im Gleichklang mit Rachid Boudjedra, der sich schon als algerischer Rushdie sieht: „Niedergeschlagen. Bin konsterniert... Islamischer Terror... stehen am Rande des Bürgerkrieges.“ Mimounis und Boudjedras Problem: „Boudiaf war das letzte Stück historische Legitimität, das der Militärjunta blieb. Daran ließ sich festhalten. Jetzt fürchtet Mimouni die „Machtergreifung der Militärs“ — er hat noch nicht gemerkt, daß die Generäle längst an der Macht sind.
Nezzars These glaubt außer der armeehörigen algerischen KP (PAGS) und Said Saadis KabylenPartei RCD („Boudiaf ist ein Märtyrer des souveränen, freien und demokratischen Algerien“) kaum jemand. Überall hören die Reporter: „Das ist eine Geschichte, die die Militärs unter sich auszumachen haben“, und: „Die Sécurité Militaire hat wieder einmal zugeschlagen.“ Boudiaf, denken viele AlgerierInnen, war ein alter Mann mit autoritären Tendenzen und Nezzar weniger gefügig, als dieser gedacht hatte. Andere sehen hinter dem Attentat die noch immer mächtige Hand der alten Nomenklaturisten wie General Mustafa Belloucif, die Boudiaf mit einer — freilich abgewürgten — Antikorruptionskampagne gereizt hatte.
In Algiers Cafés werden die zahlreichen Widersprüche in den amtlichen Darstellungen der Mordtat diskutiert. Die Militärjunta sprach von einem Einzeltäter — aber zehn Minuten nach den tödlichen Schüssen kam es im Kulturpalast von Annaba zu einer anhaltenden Schießerei. Erst hieß es, der Täter sei tot, am Abend ließ Nezzar dann verbreiten, er sei gefangengenommen. Ins Militärhospital von Annaba wurden 41 Menschen eingeliefert, die bei dem Attentat verletzt wurden, darunter Industrieminister Abdennour Karame und der Gouverneur der Stadt. Boudiaf lebte nach dem Anschlag noch, wurde aber sofort wie ein Toter abtransportiert. Aber nicht in eines der drei Universitätsspitäler Annabas, die mit allem medizinischen Gerät gerüstet sind, sondern unter Bewachung, in ein 600 Kilometer entferntes Militärhospital von Algier. Der Mord wurde von zwei Kameras gefilmt, das algerische Fernsehen bekam aber erst viele Stunden später eine — offenbar bereinigte — Version. Vor allem aber ist da die Todeszeit: Die Generäle meldeten Boudiafs Ableben schon um 13 Uhr — er starb nach Angaben der Ärzte aber erst drei Stunden später. „Alles lief, als sei die Sache von langer Hand vorbereitet worden“, meint ein algerischer Journalist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen