Sachsen bleibt nur eine Handvoll Perlen

Gestern lief in Ostdeutschland die Kurzarbeiterregelung aus/ Zehntausende neuer Arbeitsloser/ Treuhand und Sachsen wollen gemeinsam sanieren/ Rettungsring kurz vor dem Zusammenbruch?  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Seit heute ist mit dem Ende der Kurzarbeiterregelungen eine neue Höchstmarke in der ostdeutschen Arbeitslosigkeit gesetzt. Was sich bisher in Statistiken und Sonntagsreden noch euphemistisch umschreiben ließ, tritt ungeschminkt zutage. Ein Ende der wirtschaftlichen Talfahrt ist nicht absehbar, ganze Regionen veröden, und immer mehr Menschen bleibt nichts anderes übrig, als dabei zuzuschauen.

Allein in Sachsen befürchtet DGB-Landeschef Hanjo Lucassen 70.000 Entlassungen zum 1. Juli. Besonders hart betroffene Branchen sind der Bergbau, die Textilindustrie und die Metallindustrie. In der Metallindustrie werden mindestens 19.000 von den 26.500 MitarbeiterInnen im Bereich Arbeitsförderung, Beschäftigungssicherung und Strukturentwicklung (ABS) arbeitslos, wenn es nicht gelingt, sie bis Ende August von der Kurzarbeit Null in Umschulung oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) unterzubringen. Sachsen hat dafür 20 Millionen Mark zur Verfügung gestellt.

IG-Metall-Bezirksleiter Hasso Düvel spricht von einer „Brücke in stabile Beschäftigungsverhältnisse“, die mit dem Geld errichtet werden könnte. Für mehr als 6.000 ABSlerInnen seien bereits Umschulungen oder neue Beschäftigungsverhältnisse gefunden worden. Projekte für weitere 5.000 seien vorbereitet.

Nachdem zähe Verhandlungen zwischen Treuhand, Landesregierung und IG Metall gescheitert sind, wollen nun die ABS versuchen, allein mit dem Geld der Landesregierung die „Brücke“ zu bauen und schnellstens konkrete Projekte auf die Beine zu stellen. Die Auflösung der ABS, wie sie ursprünglich schon für den 30. Juni vorgesehen war, hätte bedeutet, mühsam gerettete betriebliche Strukturen zu zerschlagen. So stur, wie sich die Treuhand gegenüber den sechs Metall-Gesellschaften gezeigt hat, so schlecht liegen wohl auch die Karten für die ABS in der Textilindustrie. Deren „reguläres“ Ende naht „erst“ im Oktober.

Das zweite große Kontingent Arbeitsloser werden die verbliebenen Beschäftigten der Treuhandbetriebe stellen. 20.000 standen für den 30. Juni auf den Listen. In der Loe Konfektion GmbH in Lößnitz bei Chemnitz, der einstigen DDR-Jeansfabrik, müssen von 329 Beschäftigten 291 gehen, und auch in den anderen Werken der Ex-Industriestadt im Erzgebirge bleiben nur noch einige Leute zum „Lichtausknipsen“.

Vor acht Wochen hatten Treuhandchefin Birgit Breuel und Sachsens Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) verkündet, einvernehmlich sanierungsfähige Betriebe festzulegen und zu modernisieren. Diese Mitteilung signalisierte den sächsischen Treuhandunternehmen einen Rettungsring kurz vor dem Untergang.

Sachsen erklärte sich in dem für die neuen Bundesländer einmaligen Pakt bereit, regional bedeutsamen Betrieben Mittel aus dem Topf Gemeinschaftsaufgabe Ost oder Bürgschaften zu gewähren und die Infrastruktur zu fördern. Bisher förderte das sächsische Wirtschaftsministerium Unternehmen, die sich noch in Treuhandbesitz befinden, „grundsätzlich nicht“, wie Schommer erläuterte. Jetzt sieht sich das Land „aus struktur- und regionalpolitischer Verantwortung in der Pflicht, einen Beitrag zu leisten, damit Sachsen ein Industrieland bleibt“, das an seine Tradition „als wichtige Industrieregion“ anknüpfen könne.

Mit dieser Zielvorgabe mußte das Haus Schommer eingestehen, worin das offenkundige Defizit aller bisherigen Mühen liegt. Sachsen ist längst kein Industrieland mehr. Nur noch 80 Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten sind in den einst hochindustrialisierten Regionen verblieben. Andererseits ist der Mittelstand immer noch ein Kümmerling. „Konservative“ Prognosen der SPD- Landtagsfraktion gehen von lediglich 100.000 „zukunftssicheren“ Industriearbeitsplätzen in der Privatindustrie aus. In einer „modernen Dienstleistungsgesellschaft“ müßten es, so heißt es in ihrem Wirtschaftskonzept, mindestens 300.000 sein. Das wären 20 Prozent.

Treuhand und Landesregierung wollen nur solche Industriebetriebe sanieren, die für die regionale Struktur unverzichtbar erscheinen. „Inzwischen gibt es hier nur noch Kernbereiche“, entgegnet Hanjo Lucassen. „Im Prinzip müßten alle bestehenden Treuhandbetriebe in die Förderung einbezogen werden.“ Für diesen „sozialen Konsens“ wäre die Gewerkschaft auch bereit, ihre Idee von Industrieholdings unter Landesbeteiligung zu begraben.

Beifall fand das in der größten Not geborene Abkommen über die Landesgrenzen hinaus. Doch als Notbremse taugt das unkonventionelle sächsische Modell offenbar nicht, und inzwischen rechnet das Haus Schommer mit den ersten Firmennamen auf der Liste frühestens im Herbst.

Unklar ist bisher nicht nur, woher Sachsen die zusätzlichen Gelder zur Investitionsbeihilfe nehmen will. Vor allem bleibt fraglich, wie die Absichtserklärung ausgefüllt werden soll, gemeinsam die sanierungswürdigen Unternehmen festzulegen. Wer kann eine Brücke zwischen der Treuhandanstalt, die sich schnell ihres Kaffeesatzes entledigen möchte, und dem Land bauen, das mit mäßigem Erfolg bei Investoren aller Länder Klinken putzen ging und nun noch, kurz bevor das Licht ausgeht, seine letzten Glasperlen aufwerten muß?

In der CDU-Landtagsfraktion grummelte es beleidigt, als nach dem aufsehenerregenden Statement ihres Ministers und von Frau Breuel die Sozialdemokraten daran gingen, bei Kommunalpolitikern und in Unternehmen für jenes Abkommen zu werben, das in „exemplarischer Weise den Intentionen und Vorschlägen des SPD-Programms zur Sicherung von mindestens 100.000 Industriearbeitsplätzen“ folge. So lehnte die CDU-Mehrheit gleich sechs dringliche SPD-Anträge ab, mit denen praktische Schritte formuliert worden waren. Nach Meinung der Sozialdemokraten müßte eine Expertenkommission die Liste der zu sanierenden Unternehmen zusammenstellen. Dazu sollten von den Betrieben qualifizierte Konzepte vorgelegt werden, die eine Sanierung und Privatisierung innerhalb von drei bis fünf Jahren beschreiben. Die Staatsregierung sollte die Listen in Bonn bestätigen lassen und das Geld eintreiben.

„Finanzierung von Arbeitslosigkeit oder neuer Arbeitsplätze käme letzlich teurer als die Sanierung“, rechnet der Landtagsabgeordnete Christian Preißler von der SPD vor. 125.000 Mark kostet die Sanierung eines industrieellen Arbeitsplatzes. In den nächsten fünf Jahren wären 12,5 Milliarden Mark nötig, um 100.000 Jobs in Sachsen aufzubauen. „Offensichtlich will die Bundesregierung sich nicht darauf einlassen, in so einem großen Maße von ihren alten Grundsätzen abzuweichen. Sie würde ja eingestehen, daß sie mit ihrer Wirtschafts- und Finanzstrategie gescheitert ist.“

„Brücken stürzen ein, noch ehe wir das Ufer sehen“, fürchtet der Präsident des Landesarbeitsamtes, Alois Streich, angesichts der von Finanzminister Waigel (CSU) angekündigten Kürzung des Etats der Bundesanstalt um sechs Milliarden DM. Ob mitten in der neuen Entlassungswelle das sächsische Sanierungsmodell Beifall verdient, wird davon abhängen, wie es gelingt, den Interessen des Landes, der Kommunen und Regionen das entscheidende Gewicht zu geben. Nur eine Handvoll Perlen medienträchtig zu putzen wäre makaber.