Krückstock für die Bonner Koalition

■ Nach langer Diskussion hat die FDP ihr Modell einer privaten Pflichtversicherung aufgegeben und sich mit der Union auf die Pflegeversicherung im Rahmen der Sozialgesetzgebung geeinigt...

Krückstock für die Bonner Koalition Nach langer Diskussion hat die FDP ihr Modell einer privaten Pflichtversicherung aufgegeben und sich mit der Union auf die Pflegeversicherung im Rahmen der Sozialgesetzgebung geeinigt. Die Arbeitgeber müssen dennoch keine höheren Lohnnebenkosten fürchten.

Dies ist nach 20 Jahren Diskussion ein guter Tag für den Sozialstaat“, behauptete gestern in Bonn Arbeitsminister Blüm. Und so, als lägen in punkto Pflegeversicherung alle Probleme hinter ihm, schnaufte er erleichtert: „Es war schon, wie ich zugebe, eine Gratwanderung, von vielen Abstürzen gefährdet.“ Bis zum 1. Oktober muß er einen Gesetzentwurf vorlegen. Die mit der FDP ausgehandelten Eckpunkte: 1,7 Prozent des Bruttolohns sollen je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bezahlt werden. Einzahlen müssen all diejenigen, die auch in der gesetzlichen Krankenversicherung sind — also auch Rentner und Arbeitslose; nur wer mehr als 5.100 Mark verdient, Beamter oder Selbständiger ist, wird nicht zur Kasse gebeten. Versichert sein sollen Pflegekosten bis zu 2.100 Mark. Trotz Helmut Kohls mehrfach wiederholter Zusage, die Pflegeversicherung solle ab Anfang 1994 gelten, einigten sich FDP und CDU/ CSU auf einen zwei Jahre späteren Startschuß.

Trotz der Einigung ist bisher keineswegs sicher, daß Blüms Lieblingsprojekt nicht doch noch in den Bach fällt. Denn der Koalitionspartner FDP hat seine Zustimmung zum in den letzten Monaten ohnehin arg gerupften Sozialversicherungsmodell an harte Bedingungen geknüpft. Künftig sollen Arbeitnehmer am ersten Krankheitstag vor der Alternative stehen, entweder keinen Lohn zu bekommen oder einen Urlaubstag zu opfern. Die Arbeitgeber bekommen auf diese Weise ihren Anteil zurück, die Arbeitnehmer zahlen alles. Nur wenn dies verfassungsrechtlich möglich und politisch durchsetzbar sei, wollen die Liberalen dem Gesetz ihren Segen geben. Blüm versuchte dann gestern die Quadratur des Kreises, indem er die Regelung als arbeitnehmerfreundlich verkaufen wollte: Arbeitgeber und Arbeitnehmer würden gleichermaßen entlastet, eine schärfere Überprüfung von Krankschreibungen komme allen ehrlichen Beitragszahlern zugute.

Nach Blüms Rechnung sollen insgesamt 25,1 Milliarden Mark in die Pflegeversicherungskasse fließen — 14,2 sollen die Versicherten beitragen und 10,9 Milliarden die Arbeitgeber. Neben der Einführung von Karenztagen, für die Blüm 6,5 Milliarden Mark Kostenersparnis für die Firmen annimmt, will der Arbeitsminister auch Kürzungen bei den Krankenversicherungskosten und bei der Unterstützung für Aussiedler und ABM-Stellen vornehmen. Für ambulante Pflege veranschlagt Blüm 12,3 Milliarden, für den stationären Bereich 9,7 Milliarden Mark. Für die soziale Sicherung von Pflegepersonen hat Blüm drei Milliarden Mark vorgesehen.

Der Vizefraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Dreßler, kündigte bereits gestern an: „Was die CDU und die FDP den Arbeitnehmern aufbürden wollen, muß die SPD wieder geraderücken.“ Die Beschlüsse der Koalition würden im Bundesrat keine Zustimmung bekommen — eine Behauptung, die die SPD im übrigen schon bei der Mehrwertsteuer nicht eingelöst hat; und auch dieses Mal sind durch die Einsparung von Sozialhilfekosten Länderinteressen berührt. Dennoch wäre ein Umfallen der SPD an dieser Stelle wohl noch rufschädigender: Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer sprach gestern von einem „beinahe diabolischen Kompromiß“. Die Bundesregierung müsse sich auf eine harte politische Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften gefaßt machen. Tatsächlich kann die Regierung ohne eine Änderung des Tarifvertragsgesetzes die Einführung von Karenztagen nicht vorschreiben.

Aber die FDP hat vorgesorgt, daß der Pflege-Kompromiß nicht aufzuweichen ist. Die Liberalen ließen es sich von ihrem Koalitionspartner schriftlich geben, daß es auch bei einer Blockade durch den Bundesrat keine wechselnden Mehrheiten geben werde und daß die Arbeitgeber auf jeden Fall eine Kompensation erhalten. Trotz dieser Zusage sahen sich die Arbeitgeber gestern zu einem wilden Aufschrei veranlaßt: „Die Wirtschaft ist zutiefst betroffen über die Entscheidung zur Pflegeversicherung.“ Annette Jensen