: „Dann bist du so klein mit Hut“
■ Der Pflegeheimplatz im Osten wird immer teurer, die Rente reicht nicht mehr, die Erspar- nisse sind aufgebraucht — eine Reportage aus einem Altenheim in Berlin-Prenzlauer Berg
Elisa Grundmann (*) hält einen Monolog, eine Rede an die Runde Damen, die auf neuen West-Plastiksesseln im Hinterhof-Garten zusammengerückt ist. Im Halbschatten unter Bäumen sitzt man ruhig, weit weg von Verkehrslärm der Pappelallee, an der das St.-Joseph-Hospital liegt, ein katholisches Altenheim in Berlin- Prenzlauer Berg. Elisa Grundmanns Rede handelt von ihrem 83jährigen Leben. Es ist nicht eben neu, was sie zu sagen hat, aber sie erzählt gut und nun, da sie es hinter sich hat, mit trockenem Humor. Und so hören ihr die Frauen noch einmal zu. Auch hätten sie ohnehin nichts anderes zu tun. Denn wo sie jetzt leben, kochen andere, putzen andere, machen andere ihre Betten und cremen ihnen die kaputten Beine ein.
Was bleibt, ist ein Taschengeld
„Der Mann“ — der Mann, sagt Elisa Grundmann, nicht mein Mann —, der Mann kam mehr tot als lebend aus dem Krieg. Sie versorgte ihn, immer zu Hause und zwei Kinder dazu. Und wenn er ins Krankenhaus kam, schlug er dort Krach, bis sie ihn wieder nach Hause schafften zu seiner Frau, die ihn doch viel besser pflegte als all die Weißkittel.
„Und dann“, sagt Elisa Grundmann, „hatte ich den Mann wieder auf der Pelle.“ Eine der Damen räuspert sich. „Ja, auf der Pelle, wirklich“, bekräftigt die Grundmann und wischt alles Beschönigende mit einer Handbewegung fort. Elisa Grundmann ging arbeiten in Großküchen und hielt die Schufterei nur durch wegen der Kinder.
Und jetzt, wo Elisa Grundmann, die ihr Leben lang andere versorgt hat, selbst Pflege braucht, reicht ihre Rente wieder nicht. Seit letztem Jahr lebt sie von Sozialhilfe. Der Heimplatz kostet derzeit 1.500 Mark monatlich und wird immer teurer. Ihr bleibt ein Taschengeld von 120 Mark. Die Ersparnisse sind aufgebraucht, auch die für die Beerdigung. Vom Taschengeld kauft die 83jährige sich, „was mir schmeckt“, mal Schrippen, mal Obst, mal eine Flasche Fruchtsaft. Die Fußpflege kostet jetzt 17 Mark, eine Dauerwelle neuerdings 50 Mark und die Haftcreme fünf Mark mehr als vor der Wende. Aber von ihr wird niemand Klagen hören, sagt Elisa Grundmann. „Kleider, Schuhe, das brauche ich alles nicht mehr. Wer über 80 ist und sich noch neue Kleider kauft, ist sowieso bekloppt.“
Die Damen in der Runde haben bislang stillschweigend zugehört, jetzt protestieren sie. Erstens sind noch nicht alle über 80, und zweitens hat das mit den Kleidern andere Gründe. Ja, auch sie kaufen sich nichts Neues mehr, „aber doch, weil ich nicht betteln gehen will“. Niemals, sagt Gertrud Eggenstein (*), die es als „Beleidigung“ empfindet, Sozialhilfeempfängerin zu sein, werde sie aufs Amt gehen wegen eines neuen Kleides oder eines Wintermantels. Und auch ihre Tochter wird sie nicht um Geld bitten, „nicht um einen Pfennig“. Dann lieber die alten Kleider, „obwohl es doch jetzt so schöne Sachen gibt“. Daß man sich nicht selbst versorgen konnte oder mit der Rente nicht hinkam, das passierte in der alten DDR doch nur den „Asozialen“. Das sitzt drin bei den Alten.
Kaum jemand kann den Heimplatz bezahlen
In Ein- und Zweibettzimmern werden im St.-Joseph-Hospital 34 alte Frauen von Carmeliterinnen, Schwestern eines katholischen, sozial tätigen Ordens, versorgt. Die hauseigene Statistik zeigt die Lage in ganz Ostdeutschland: Niemand kann auf Dauer den Heimplatz selbst bezahlen, die Rente allein reicht nicht, die relativ kleinen Sparvermögen sind schnell aufgebraucht. In St. Joseph wird in diesem Sommer auch die letzte Selbstzahlerin vom Sozialamt und damit vom Taschengeld abhängig.
Im Osten sind nahezu alle Alten (98 Prozent) in Heimen auf das Sozialamt angewiesen, im Westen erhalten nach jüngsten Berechnungen des Bundesfamilienministeriums 70 Prozent aller Pflegebedürftigen Sozialhilfe. Ingesamt leben, so wird geschätzt, etwa eine halbe Million pflegebedürftiger alter Menschen in Heimen. Die geplante Pflegeversicherung soll die Sozialhilfe entlasten, aus der allein im Westen gegenwärtig knapp fünf Milliarden Mark jährlich in die Altenpflege fließen. Für die Alten wiederum brächte die Finanzierung ihres Heimplatztes aus der Versicherung größere Unabhängigkeit vom Sozialamt und damit mehr frei verfügbares Geld. Doch die Regelungen werden frühestens ab 1996 greifen. Eine Pflegefinanzierung würde weiter dazu führen, daß sich PflegerInnen in größerer Zahl selbständig machen und die ambulante Pflege ausbauen könnten.
„Jeden Ersten gibt's Geld, da leb' ich wieder“
Für die alten Frauen am Prenzlauer Berg ist das Zukunftsmusik. Sie alle kamen ins Heim, weil sie nicht mehr richtig laufen können, weil es im Haushalt nicht mehr klappte, weil niemand die Kohlen hochholte, weil die Wohnung der Kinder zu klein ist oder sie zu den Kindern auch gar nicht gehen wollen, nicht ums Geld streiten möchten oder um die Kindererziehung. Elisa Grundmann hat nach einem Sturz in ihrer Wohnung auf dem Fußboden gelegen, bis Nachbarn nach Tagen ihren Unfall bemerkten und einen Notarzt riefen. Sie hatte keine Alternative, als sie dann ins Heim ging, ambulante Pflege zu Hause gab es nicht. Das war vor knapp vier Jahren. Ihren ganzen Haushalt mußte sie weggeben. Ihre Karriere im St.-Joseph- Hospital begann in einem Zweibettzimmer und mit Tränen: „Ich hab' tagelang geschrien. Jetzt hast du dich verkauft, dachte ich. Weil ich doch vorher ein freier Mensch gewesen war.“ Aber wenn man erst mal nicht mehr laufen kann, nicken die Damen in der Runde. Und Elisa Grundmann lächelt spöttisch, denn auch sie hat sich gefügt: „Dann bist du so klein mit Hut.“ Ihre kleinen Fluchten beginnen jeden Ersten: „Da gibt's wieder Geld, da leb' ich wieder.“ Nein, Grund zum Klagen hat sie wirklich nicht. Hier ist man versorgt, das Essen ist sehr gut, die Pflege auch, „es fehlt wirklich an nichts“. Und auch im Sommer wird abends um halb neun geschlossen. Bettina Markmeyer, Berlin
(*) Die Namen wurden auf Wunsch der betroffenen Personen von der Redaktion geändert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen