Zwischen Helfertum und Feminismus

■ Das Frauenkrisentelefon in der Schokofabrik wird zehn Jahre alt/ Probleme ähneln sich oft: Depressionen, Gewalt, Isolation/ Immer mehr Anrufe aus dem Ostteil

Kreuzberg. Berlin 1982: Selbsthilfegruppen schießen wie Pilze aus dem Boden. Auch immer mehr Frauen schließen sich zusammen und eröffnen selbstverwaltete Projekte. Auf einem Psychiatriekongreß entwickeln einige Frauen die Idee, eine eigene Beratung zu gründen — nicht als klassische Telefonseelsorge, sondern als parteiliche und kritische Beratungsinstanz von Frauen für Frauen. Wenig später klingelt das Frauenkrisentelefon in Berlin zum ersten Mal — am 2. Juli 1982. Gestern feierten Mitarbeiterinnen und Freunde in der Kreuzberger Schokofabrik ihr zehnjähriges Jubiläum.

Über 1.000 Frauen lassen sich inzwischen jährlich in Krisensituationen vom Frauentelefon beraten. Die Anlässe wiederholen sich oft. Vom Partner geschlagen, mißhandelt, depressiv, arbeitslos. 25 ehrenamtliche Frauen teilen sich über die Woche zwei Stunden täglich den Telefondienst. Der Senat finanziert lediglich zwei halbe Stellen für die Organisationsarbeit.

Zehn Jahre Frauenkrisentelefon waren auch zehn Jahre Diskussion in der Berliner Frauenprojektebewegung. Ist ein Krisentelefon ein feministisches Projekt oder ein Reparaturbetrieb ohne radikale Perspektive? Dürfen Frauen sich immer wieder unbezahlt im sozialen Bereich engagieren? Können sie mehr sein als hilflose Helferinnen? Und, vor allem: Staatsknete, ja oder nein? Die Beantragung staatlicher Gelder führte 1983 zu dem Umzug des Frauenkrisentelefons aus dem Frauenzentrum in die Schokofabrik. »Wir wollten raus aus dem Stigma von Ehrenamt und Selbsthilfe«, erzählt Mitgründerin Christa Nehsemann. Sie wollte mit dem Krisentelefon mehr als »nur« beraten. »Hier läuft soviel an für Frauen typischer Diskriminierung zusammen, das für die gesellschaftliche Debatte über Gewalt gegen Frauen wichtig ist.« Veröffentlichung contra Anonymität? Auch darüber gab es Debatten. Bis heute wurde zwar geforscht — aber noch nicht veröffentlicht.

Seit dem Fall der Mauer steht das Telefon noch weniger still als vorher. Soziale Unsicherheit, Verlust des Arbeitsplatzes, die in der DDR weitgehend verschwiegene Gewalt in der Familie lassen auch immer mehr Ost- Frauen zum Telefonhörer greifen. »Wenn das Netz besser ist, wird da noch einiges auf uns zukommen«, glaubt Mitarbeiterin Monica Schwab. Häufig sei ein Anruf bei ihnen der erste Schritt zur Konfliktbewältigung. Die Frauen am Telefon hören zu und versuchen, zu anderen Einrichtungen zu vermitteln. Eine Daueranlaufstelle wollen sie nicht sein. Dennoch rufen oft dieselben Frauen mit chronisch ungelösten Problemen an. Hin und wieder verirren sich allerdings auch völlig unerwartete Anrufer in den Anschluß in der Schokofabrik. Neulich beschwerte sich eine 87jährige, daß ihr Mann fremdgehe. Er war mit einer anderen Frau in einem öffentlichen Café gesehen worden. jgo

Das Telefon ist unter 6154243 montags und donnerstags von 10 bis 12, dienstags, mittwochs und freitags von 19 bis 21 und am Wochenende von 17 bis 19 Uhr besetzt.