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: Erbauung im Bau

■ Ein vergessener Tempel in der Haftanstalt Plötzensee

Die in Finsternis und Todesschatten wohnen, gefesselt in Elend und Eisen, weil sie widerspenstig waren dem Worte Gottes, und des Höchsten Rat verhöhnt; und er beugte durch Mühseligkeit ihren Sinn, sie stürzten und niemand half, und sie schrien zum Ewigen in ihrer Not, aus ihren Bedrängnissen rettete er sie, führte sie aus Finsternis und Todesschatten, und ihre Bande zerriß er. Danken mögen sie dem Ewigen seine Huld, und seine Wunder für die Menschenkinder, daß er zerbrochen eherne Türen, und eiserne Riegel zersprengt.«

Der Bericht einer Gefangenenbefreiung? Den jüdischen Insassen der Haftanstalt Plötzensee, die am 8. November 1908 eine Predigt über diesen Psalm 107, Vers 10 bis 16, hören, muß das Ganze wie ein Versprechen vorkommen. Anlaß der Veranstaltung ist die Einweihung der Gefängnis-Synagoge. Mit »herzgewinnenden Worten« wendet sich der Anstaltsgeistliche, Prediger Levy, an die jüdischen Gefangenen, um die Errungenschaft eines neuen Gebetsraumes zu würdigen. Und diese Synagoge ist wirklich eine besondere Einrichtung: Wer sich mit jüdischen Sakralbauten in Deutschland und speziell in Berlin beschäftigt, wird in den zahlreichen religionshistorischen und architekturgeschichtlichen Büchern vergebens nach einem Hinweis auf diesen vergessenen Tempel suchen. Es gibt keine Fotos von ihm, keine Tondokumente konservieren den Gesang des Kantors oder den Chor der jüdischen Gefangenen, und es ist nicht einmal bekannt, wie lange die Einrichtung bestanden hat.

Die spärlichen Nachrichten über sie hat jetzt der Berliner Historiker und Direktor der Stiftung »Neue Synagoge Berlin — Centrum Judaicum«, Hermann Simon, gesammelt und ausgewertet. Er beschreibt die Ergebnisse seiner Nachforschungen im dritten Band des Jahrbuches für deutsch-jüdische Geschichte, Menora, das unter anderem einen Themenschwerpunkt Berlin hat.

Der stimmungsvollen Festpredigt des Predigers Levy in Plötzensee geht eine Diskussion verschiedener jüdischer Gemeinden mit dem preußischen Ministerium des Inneren voraus. Dabei geht es um Geld, genauer um die Kosten für die Anstalts-Seelsorge. Im April 1845 teilt das Innenministerium mit: »Da der Staat im allgemeinen zur Unterhaltung der Unterrichts- und Kultusanstalten der Juden aus seinen Fonds nichts beiträgt, so werden auch für den Unterricht und die religiöse Erbauung der jüdischen Sträflinge keine besonderen Verwendungen aus der Staatskasse gemacht.« Immerhin würden, heißt es, die inhaftierten Juden ja seit 1833 nicht mehr dazu gezwungen, »dem evangelischen Gottesdienst beizuwohnen«. Den chronisch armen jüdischen Landgemeinden mußte daran gelegen sein, daß ihre einsitzenden Mitglieder aus kleineren Haftanstalten in die großen Berliner Gefängnisse überführt wurden: Bei einer Belegung mit mehr als zehn Gefangenen übernahm in der Regel der Staat die Kosten der Seelsorge.

Es wäre interessant zu erfahren, wie der Alltag jüdischer Gefangener in diesen preußischen Gefängnissen aussah. Zwar galten zumindest auf dem Papier getrennte Feiertagsregelungen und Gottesdienste, eine koschere Gefängnisküche wird es hingegen nicht gegeben haben.

Wahrscheinlich bedeutete die Synagoge in Plötzensee so etwas wie kulturelle Identität für die jüdischen Gefangenen — zumindest eine Erinnerung an bessere gewesene oder kommende Zeiten. Ob allerdings der Anstaltsgeistliche Levy immer den richtigen Ton traf, kann bezweifelt werden. Die Zeitung 'Der Gemeindebote‘ jedenfalls berichtet vom Einweihungsgottesdienst: »Die gesamte Feier nahm einen durchaus würdigen Verlauf und machte auf alle Teilnehmer, besonders aber auf die Vertreter der Staatsbehörden und die Beamtenschaft, einen wohltuenden Eindruck.« Hans-Joachim Neubauer

Menora. Jahrbuch für deutsch- jüdische Geschichte 1992. Im Auftrag des »Salomon Ludwig Steinheim-Institutes für deutsch- jüdische Geschichte«, hrsg. von Julius H. Schoeps, München, Piper 1992, 305 Seiten. 19,80 DM