Dachboden in Buchformat

■ Berlin — eine Ortsbesichtigung aus dem Transit Verlag

Träge und überhitzt sitzen wir in einem etwas heruntergekommenen Strandkorb am Scharmützelsee. Das ehemals sozialistisch geblümte Innenfutteral riecht immer noch auffallend nach Plaste und Elaste. Es ist Wochenende, Kurzweilzeit, Ausflugswetter. Und so lassen wir uns von den mindestens 32 Grad Sonne im Schatten genüßlich berieseln und stöhnen vor Bequemlichkeit. »Lies mir doch etwas vor«, quengelt meine Begleitung. Offenbar hat sie schon wieder ihren Krimi in Kreuzberg vergessen und malt nun, in Ermangelung geistvollerer Beschäftigungsmöglichkeiten, mit der Spitze ihres rechten Zehs unabläßlich Kreise in den Märkischen Sand. Gleichmütig wühle ich in meinem Strandbeutel, suche das verflixte Buch — lesen wollte ich es ja so oder so! — und durchforste das Inhaltsverzeichnis nach einer für diesen Ort, diese Sachlage, dieses Leben geeignete Vorlesegeschichte.

Das Kapitel »Seen-Geblubber — Grunewaldsee, Schlachtensee, Krumme Lanke und andere dunkle Gewässer« erscheint mir ausgesprochen passend zu sein. Und das nicht nur, weil es sich bei der Autorin um meine ehemalige Kollegin Renée Zucker handelt. Und so tauchen wir Seite für Seite hinab zu den skurrilen Begebenheiten an den diversen Hundeausführgewässern, streifen die Trauerweide am Schloßpark-See, die Frau Zucker zum »leisen Leiden« empfiehlt, lassen uns, weil gerade zum leisen Leiden nicht aufgelegt, nicht aufhalten, sondern immer weiter durch die Seiten von Berlin — eine Ortsbesichtigung treiben, machen dann erstaunliche Erfahrungen mit einer vorzeitlichen Endmoräne, und ich hätte mich schon fast abrupt zur Heilandskirche von Sacrow aufgemacht, wäre da nicht meine Strandkorb-Begleitung, die mich am Ende dieses und jedes folgenden Kapitels mit geschlossenen Augen und dem schlichten Wort »weiter« immer wieder zum neuerlichen Aufschlagen des Verzeichnisses bringt.

Und so schmökern wir uns im Laufe des Tages Kapitel für Kapitel lang durch das alte Berlin — hin und wieder wird mir eine kurze Atempause oder ein stärkender Schluck aus der lauwarmen Seltersflasche gegönnt — streifen mit Klaus Völker die »Theaterstadt«, spazieren mit Klaus Stromeyer durch den Neuen Westen »Berlin WW«, als er noch nicht die West-City, sondern das moderne »Fluidum« schlechthin war — »Schau mal, so sah der Ku'damm 1930 aus!« Die vielen historischen und gegenwärtigen Fotos aus »unserer« Stadt eröffnen neue Perspektiven, interessante Rückschauen. Gegen 3 Uhr nachmittags, der Osten riecht erstaunlicherweise schon lange nicht mehr nach Plaste, lassen wir uns von Harald Bodenschatz über jene »Mietskasernen« aufklären, in denen wir zur Zeit wohnen, und ebenfalls über diese »hochherrschaftlichen Wohnlandschaften«, welche auch wir recht gerne bezögen. Um 5 — es ist immer noch unerträglich heiß — schlendern wir dann mit Clemens Walter über die vielen »Märkte und Trödel« der Stadt.

Es gibt unendlich viele Berlin-Bücher. Sie heißen »Berlin zu Fuß«, »Die Hauptstadt mit dem Fahrrad« ... oder mit dem Feldstecher oder so oder anders. »Berlin — Eine Ortsbesichtigung« ist trotz dieser Flut genau das Buch, auf das ich seit Jahren gewartet habe. In 28 Kapiteln werden fast alle nötigen und viele unnötigen (aber nie überflüssigen) Aspekte dieser Stadt beleuchtet. Vom Film-Berlin zu seinen Currywürsten, vom Alexanderplatz in ein »Go-In« des Jahres 1930 findet die historische, kulturelle und architektonische Stadt-Geschichte hier Niederschlag in all ihren großen und kleinen Windungen. Jedem der 26 AutorInnen wurde dabei klugerweise die Freiheit überlassen, ihren ganz persönlichen Erzählstil zu pflegen. Und so ist diese Berlin-Anthologie, mal geschichtlich orientiert und sachlich bis ins Trockene, mal schwärmerisch, poetisch oder pointiert, ebenso vielfältig und uneinheitlich geraten wie die ungeteilt geteilte Hauptstadt-Provinz, die sie beschreibt.

Ein Buch für NeuberlinerInnen, die zur Zeit den Gedanken ins Auge fassen, sich in diesen Moloch Stadt zu verlieben, ein Hand- und Lesebuch aber auch für alte Trizonesier, die an einem langen Wochenende zwischen den Seiten herumstöbern können wie auf einem vergessenen Gründerzeit-Dachboden.

Als die Sonne schon fast hinter dem Scharmützelsee verschwunden ist, beschließen wir, die drei Mark Strandkorbgebühr, welche der »Zweckverband Erholungswesen Scharmützelsee« befugterweise erhebt, weithin abgesessen zu haben. Und so kehren wir widerwillig zurück in diese »Synchroni-City«, vorbei am Zentrum Unter den Linden, den Alexanderplatz umfahrend, zurück in unsere Mietskasernen mit den feuerspritzentauglichen Innenhöfen von 5,35 mal 5,34 Meter. Nächsten Samstag fahren wir sicher wieder raus, die »Ortsbesichtigungen« ins Handtuch gewickelt, und besuchen noch einmal unsere Stadt mit dem Finger auf der historischen Landkarte, die meine Begleitung schlußendlich im rückwärtigen Buchdeckel der »Ortsbesichtigung« entdeckte. Aber da war es für dieses Mal wirklich schon zu spät zum Weiterlesen. Klaudia Brunst

Transit Verlag, 304 Seiten, 160 Abbildungen, 38 DM