DEBATTE
: „Ich bin für die Ost-Partei“

■ Schriftsteller Gerhard Zwerenz unterstützt das Diestel-Gysi-Projekt

In Ostdeutschland brauchte der Sozialismus vier Jahrzehnte bis zur Implosion. Dann kam die freisoziale Marktwirtschaft. Binnen zwei Jahren verwandelte sie den sozialistischen Exerzierplatz in eine komplette Abraumhalde. Natürlich darf man das nicht so offen sagen. In Deutschland ist die Analyse eine Kassandra. Dagegen hilft nur Zensur. In Ostdeutschland folgte auf die Staatszensur die lang eingeübte Selbstzensur der Medienmarktlandschaft, das heißt der privilegierten Konzerne, die sich vom Westen auf den Osten ausdehnen durften, nachdem die Revolution gesiegt hatte.

Natürlich wollten alle nur das Beste. Die Genossen wollten Sozialismus, die Bürgerbewegten Freiheit und Demokratie, Helmut Kohl wollte den Mantelzipfel der Geschichte. Die Kabarettisten freilich glaubten nicht daran und machten über alles ihre dummen Witze. Genauso verlief die Vereinigung. Aber auch das soll so genau nicht gesagt werden. Vorsorglich wurden die ostdeutschen Diestel&Gysi schon abgesägt, noch bevor ihre Gemeinsamkeit als ostdeutsche Interessenvertretung offiziell wurde. Denn Demokratie ist bei den Deutschen nicht Volksherrschaft, sondern die Interessenvertretung des Volkes durch seine politische Klasse. Der Ostdeutsche hat Krause oder Merkel zu heißen, nicht Gysi oder Diestel.

Natürlich sind alle tüchtigen Wessis gegen einen separaten Ossi-Laden. CDU/CSU, FDP und SPD sehen darin die Quittung der eigenen Niederlage. So schöne Sprüche, man sei das Volk und ein Volk, gelten nur vor der Hochzeit. Demokratie als Herrschaft derer, die bereits herrschen, nimmt Schaden, wollen welche herrschen, die nicht von den Herrschern beauftragt werden. Natürlich sind auch die Wessi-Linken (vormals alternativ oder sonstwie freischwebend) gegen die östliche Neuigkeit. Diestel ist ihnen rechts nicht ganz geheuer, Gysi links genauso. Denen, die etwas tun, gilt ein gesamtlinker Abscheu, denn Lenin tat das Falsche und Dutschke ist auch schon lange tot.

Möglicherweise bekommen die Skeptiker recht. Vielleicht steckt der Karren schon ausweglos im Dreck. Dann gehen wir herrlichen Zeiten entgegen. Da ich zu oft schon herrliche Zeiten erleben mußte, bin ich für eine neue Interessenvertretung Ost. Ich bin für Gysi, gerade weil die germanische Nationallje ihn verfolgt. Jeder verschämte und unverschämte Antisemitismus macht mir Gysi lieber und werter. Der Mann verteidigte Oppositionelle. Das war gestern. Heute verteidigt er wieder die Schwächeren. Und das geschieht mit Witz und Charme, während im Bundestag rechtgläubige Stinkstiefel dagegen anhetzen, ganz die Söhne der SA- und SS-Führer, die seinen Vater schon verfolgten.

Ich bin für Diestel, der seiner Partei nicht den Gefallen tut, sich als ostdeutscher Wessi zu verkleiden. Ob das Projekt der Ost-Partei glückt, weiß ich nicht. Wo nicht, scheitert es an der charakterlosen Feigheit derer, die stets in solchen Situationen passiv bleiben. Da ich alt genug bin, erinnere ich mich an diverse Gelegenheiten: Wie unsere tüchtigen Deutschen im Kriege solange gehorsam waren, bis ihr Reich zum Teufel ging. Wie unser DDR-Sozialismus von gehorsamen Genossen solange siegreich befestigt wurde, bis er dem Dritten Reich in den Orkus nachfolgte: Dieser Vergleich stimmt immerhin. Ich lebte 32 Jahre im Osten und weiß, wovon ich rede. Bis zum Abgang der DDR lebte ich dann 32 Jahre im Westen. Hier wurde immerzu von der Einheit geredet und nichts dazu getan.

Mit dieser Doppelzüngigkeit glaubte Bonn nun die Einheit realisieren zu können. Man hielt die halbe Revolution an und schickte Beamte in den Osten. Doch die bürokratische Revolution erbrachte nur den heutigen Zustand permanenter Pleite. Das Volk aber hat zu zahlen. Die Sahne schöpfen Abenteurer, Spekulanten und Kriminelle bis hin zu allerhand Mafiosi ab. Was ist da noch frei, was sozial, was Marktwirtschaft?

Wenn Geld allein nicht glücklich macht, so macht auch Kapital allein noch keine Marktwirtschaft. Der Fehler liegt im falschen Grundverhalten der West- zu den Ostdeutschen. Sie seien verdorben, unfrei, verdrossen, anspruchsvoll, heißt es. Vom Sozialismus sei nichts erhaltenswert, dekretieren Politiker und Feuilletonisten in schöner Eintracht. Da erinnern die DDR-Frauen sich ihrer sozialen Sicherheit, ihrer Freiheit vom Paragraphen 218 und der üppigen Kindergartenplätze, die zu garantieren die reiche BRD nicht reich genug ist. Statt dessen drohen „Kampfeinsätze“. War der Sozialismus nicht so übel, wie er gemacht wird? Ist die Marktwirtschaft mehr asozial und unfrei als sozial und frei?

Der Wessi schickt Geld in den Osten und behandelt ihn im übrigen als Anschlußsache. Die Ossis fielen in Euphorie, als die Mauer fiel, die Wessis sahen sich schon als Sieger der Geschichte: 1989 machte 1945 wett. Pustekuchen. Gott mag mit den Mächtigen sein, Hybris mag er auf Dauer nicht. Das wußten schon die alten Griechen.

Das erste moderne Deutschlandbuch stammte von mir und hieß Ärgernisse. Ich war der erste geteilt schreibende Deutsche. Meine Freunde von der Gruppe 47 reagierten 1961 verärgert, als ich von ihnen Solidarität mit meinen in Bautzen eingesperrten Freunden forderte. Inzwischen lernten sie mit drei Jahrzehnten Verspätung die Namen der damaligen Häftlinge kennen. In noch mal drei Jahrzehnten werden die deutschen Intellektuellen auch begreifen, was 1992 notwendig gewesen wäre. Nach zwei Jahren Vereinigung ist die Teilung tiefer geworden, das Land hoffnungslos niedergebügelt, eine Kraft zur bitter nötigen Korrektur im Westen nicht zu sehen. Wenn überhaupt noch etwas hilft, kann es nur durch die gemeinsame Anstrengung derer geschehen, mit denen Schindluder getrieben wurde und wird.

Gerade weil ich gern im Westen lebte, möchte ich, daß der Osten nicht zur Kolonie degradiert wird. Der Osten, das ist Goethe in Weimar, Schiller in Jena, ist Lessing, Herder, Bach, Nietzsche und Schopenhauer. Ist Hegel in Berlin, Bloch in Leipzig. Richard Wagner in Dresden. Ja, höre ich rufen, aber der Stalinismus und die Stasi. Ich denke, da sollten diejenigen schweigen, die an Hitlers Kriegen teilhatten, und noch die Söhne und Töchter der Täter sollten innehalten, denn das Dritte Reich erst ließ Stalin zum Führer einer siegreichen Supermacht werden. Ohne Hitler keine DDR, kein Staatsratskönig Ulbricht oder Honecker. Als Stalin aber nach dem Krieg ein einheitliches Deutschland anbot, wurde das von Bonn abgelehnt. So stieß man die Ostdeutschen immer wieder zurück.

Die Betrogenen der Geschichte leben im Osten. Niemand hat das Recht, diese Menschen noch einmal für 60 Jahre zu dominieren. Niemand sollte so naiv sein zu glauben, von der revolutionären Weltbewegung Sozialismus bleibe nichts als die Honeckersche Parodie. Es ist nicht einzusehen, weshalb dem Begehren der neuen Bürger nach Selbstbestimmung nicht der gleiche Applaus wie den Leipziger Montagsdemonstranten gelten soll. Es sei denn, die Westdeutschen wollten keine freien Bürger, sondern Untertanen im Anschlußverfahren, so wie 1939 die Ostmark ins Reich heimgeholt wurde. Das aber möchte ich selbst den strammsten und dümmsten Bonner Politikern nicht unterstellen. Eine Ostpartei teile die Deutschen noch weiter? Geteilter als geteilt geht nicht. Die Sportler haben ihre Verbände, die Vertriebenen, die Sänger. Bayern hat seine Südpartei, die CSU — wer will den Ostdeutschen verbieten, ihre hintangestellten Interessen so zu vertreten, wie sie es wollen? Wenn die Ostparteiler nur halb so viele Wünsche anmelden, wie Waigel und Streibl für Bajuwarien, dürfte die deutsche Politik wieder interessant und lebendig werden. Gerhard Zwerenz

Siehe auch den Debattenbeitrag „Partei des Ressentiments“ von Matthias Geis in der gestrigen Ausgabe