Das dröhnende Schweigen der Junta

Der Verdacht, daß das Attentat auf den algerischen Staatschef Boudiaf in den Reihen der Militärs geplant wurde, erhärtet sich/ Einer der Täter ist Offizier der Juntachef Nezzar unterstehenden Gegenspionage  ■ Von Oliver Fahrni

Paris (taz) — Auf seinem letzten Weg vom Präsidentenpalast zum Heldenfriedhof von El-Alia wechselte der ermordete algerische Präsident Mohamed Boudiaf noch einmal das politische Lager — viele AlgerierInnen wollten ihn am Mittwoch als „Chahid“ begraben, als „Märtyrer der nationalen Sache“. Vergeben die „Eisenmaske“, in deren Namen viele tausend Islamisten in den Gefangenenlagern der Sahara verschwanden, vergessen seine Rolle als Jasager und Trommler der Militärjunta. Die Frauen beweinten den Freiheitskämpfer, der er schließlich einmal war, und mit ihm ihre toten Angehörigen, die 1.000 massakrierten Kinder vom Oktober 88, die jungen Islamisten vom Juni 91, die Opfer der Januar-Repression, der Verhörkeller und Wüstencamps. Männer schrien nach Rache und meinten die mutmaßlichen Mörder, die im offiziellen Zug hinter dem Sarg schritten: voran Juntachef General Khaled Nezzar und dahinter der FLN-Patron Mehri und sein Vorgänger Messaadia. Unten in Bab-el-Oued, einer Bastion der Islamisten, stimmten viele Männer die Hymne der Islamischen Heilsfront (FIS) an: „Für ihn kämpfen wir, für ihn sterben wir“, und da hielt auch niemand mehr auseinander, ob das Objekt der Verehrung der Islam oder Boudiaf war. Als sich Boudiafs Sarg in das Grab neben Boumediene senkte, hatte ihn sein tödlicher Versuch, sich von den Generälen zu emanzipieren, von fünf Monaten Repression reingewaschen. Darin lag ein Stück Gerechtigkeit und Weisheit.

Dann trat Stille ein. Algerien wartet in wunder Erstarrung auf die nächste Etappe der nun schon vierjährigen Krise. Kaum jemand mehr, einige französischsprachige Intellektuelle ausgenommen, sieht hinter dem Mord die FIS. Einer der beiden Mörder wurde verhaftet und ist inzwischen als Offizier der Leibwache und des Geheimdienstes (Gegenspionage) identifiziert, der direkt dem Nezzar-Vertrauten und Innenminister General Larbi Belkheir untersteht. Gestern bezeichnete die Witwe von Boudiaf das Attentat als „Teil einer Verschwörung“ und verlangte völlige Aufklärung.

Das Hohe Staatskomitee tagt in Dauersitzung mit dem Hohen Sicherheitsrat. Beiden steht Nezzar vor. Der Sicherheitsrat hält seit Oktober 1988 faktisch die Macht. Das nun schon drei Tage dauernde, dröhnende Schweigen der Junta stützt die Aussage eines hohen Diplomaten, unter den Militärs sei der Streit um den weiteren Weg offen entbrannt. Um Algier stehen Panzerverbände. Ein wachsender Teil der Generäle und des militärisch-industriellen Komplexes, also der neuen Bourgeoisie, glaubt, daß Nezzars Repressionspolitik in die Sackgasse führt. Sie fürchten die soziale Explosion heute mehr als die Revolution der Islamisten. Sie wollen eine wirksame Politik gegen die Wirtschaftskrise und die Überprüfung der Abkommen mit dem IWF. Das sei aber ohne Einbindung der Islamisten nicht möglich. Hinter dieser Analyse verbirgt sich die Angst, die Armee könnte an der Machtprobe mit den Islamisten zerbrechen. Aus einigen Kasernen wurden Schießereien gemeldet. Bei den jüngsten Anschlägen gingen den Islamisten immer wieder Militärs zur Hand, oder gaben wertvolle Informationen: Zahlreiche führende Leute von Gendarmerie und Geheimdienst fielen dem offenbar dieser Tage zum Opfer. Ein Viertel der Armee, schätzen französische Experten, sei den Islamisten schon zugetan, Tendenz steigend. Alarmiert sandte Paris einen Diplomaten nach Algier, um die Junta zum Dialog mit der FIS zu ermuntern. Der schlug den Algeriern die Vermittlung durch Teheran vor. Nezzars Position bröckelt. Erst die Wahl von Boudiafs Nachfolge wird zeigen, welche Fraktion sich durchsetzen konnte.