Leben und Sterben, eine Frage der Registratur

■ Literatur aus dem Knast — der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene

Solange Gefangene auf Dächern sitzen, Höfe besetzen, die Arbeit verweigern, wird in den Medien berichtet — kaum sind sie zurück in den Zellen, erfährt die Öffentlichkeit nichts mehr über ihren Alltag.“ (Margit Czenki, Jurymitglied)

Um diese unerfreuliche Tatsache zu verändern, schreibenden Gefangenen ein Medium anzubieten, in dem sie ihre Texte veröffentlichen können, sie zu motivieren, ihre Situation literarisch zu verarbeiten, haben die Dokumentationsstelle für Gefangenenliteratur an der Universität Münster, der Initiativkreis Gefangenenarbeit Dortmund, der Rainer Padligur Verlag und das Strafvollzugsarchiv der Universität Bremen gemeinsam den „Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene“ geschaffen, der alle zwei Jahre ausgeschrieben und zum zweitenmal vergeben wurde.

Imponierende Zahlen: 192 inhaftierte Frauen und Männer, erstmals auch aus der ehemaligen DDR, haben an dem Wettbewerb zum Thema „Beziehungen“ teilgenommen; aus 700 Manuskripten wurden die PreisträgerInnen 1991/92 durch eine Jury ermittelt. Die Arbeiten von drei Autorinnen und 14 Autoren sind jetzt erschienen.

Klaus Altenburgs Brief gegen die Angst ist eine verzweifelte Abrechnung mit dem Vater, zu dem er trotzdem wieder eine Beziehung wünscht: „Realität ist, daß du mich am Heizungsrohr mit Hosenträgern aufgehängt hast, wenn ich ungehorsam war oder deinen Grips nicht eingebleut haben wollte. Realität ist, daß du mir mein Essen mit den Fingern in den Mund gestopft hast, wenn ich nicht essen wollte. Du bittest nicht um Verzeihung, du forderst sie. Nun hättest du endlich mal wieder Gelegenheit, mit mir zu reden, und jetzt schweigst du.“

Angst thematisiert auch die Geschichte Shalimar von Andreas Backes. Der Ich-Erzähler fürchtet sich davor, endlich nach Hause zu kommen — „nach 912 Tagen Haft“: „...er erkannte, daß er nicht mehr der Mensch war, der vor zweieinhalb Jahren von seiner Welt, von seiner Frau und seinem Kind weggerissen wurde.“ Nachts verläßt er fluchtartig die Wohnung. „Daß man mir die Freiheit nahm, war vielleicht gerecht, aber was man dort aus mir machte, das hat nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun. Daran bin ich nicht zerbrochen! Auch nicht an den Schlägen, die man mir verabreichte (...). Zerbrochen bin ich an den traurigen Blicken meiner Frau, wenn wieder einmal ein Besuch zu Ende ging, und an den fragenden Kinderaugen meines Sohnes.“

Drogenträume, Erfahrungen beim Knastbesuch, Homosexualität, Totalüberwachung: das Spektrum der Erzählungen, Gedichte und Hörspiele macht aufmerksam auf unwürdige Verhältnisse und weckt das Verständnis für Menschen, die darin leben müssen.

Nicht alle Texte in diesem Band sind preiswürdig, oft ersetzt scheinbare Authentizität literarische Qualität. Knut Brauns drastische Sprache („Deine Liebe ist Dünnschiß — Sie will niemand“) bleibt ebenso wirkungslos wie Heinz Günther Funks effekthaschende Wehleidigkeit und Schuldzuweisung („Die Seele verblutet... In den Tod getrieben von Seelenschlächtern“), weil beide nie konkret werden. Wer wie Funk 15 Jahre Knast auf dem Buckel hat, dem sollte es eigentlich nicht schwerfallen, unmenschliches Verhalten der Justiz beim Namen zu nennen. Einigen Autoren wünscht man bei der Lektüre die helfende Hand einer (guten) Lektorin. Frag-würdig ist auch, warum bei so vielen Text-Einsendungen und der geringen Anzahl von Preisträgern ein „Schaufenster“ mit Lyrik von ehemaligen und in der Literaturszene bekannt gewordenen Gefangenen in den Band aufgenommen wurde (eines dieser Gedichte stammt aus dem Jahre 1978, ein anderes gar von einem Jurymitglied).

Schwamm drüber. Allein Norbert Jeschkes Kurzgeschichte mit dem lapidaren Titel: Wie immer ist es wert, dieses Buch zu besitzen. Jeschke porträtiert darin David, einen Lebenslänglichen, der seit 19 Jahren inhaftiert ist und schon 15 Jahre lang Formulare der Gerichtskasse (!) falzt und kuvertiert: „Dreitausendmal täglich dieselbe Prozedur. Plötzliche Blindheit könnte ihn nicht hindern, die Arbeit weiterzuführen.“ Beklemmend sinnlich erzählt Jeschke die verheerende Wirkung des deutschen Strafvollzugs am Beispiel der schleichenden Veränderungen in Davids langem Knastleben: „Der Wärter stößt die Tür auf, überzeugt sich pflichtgemäß, daß der Gefangene die Nacht überlebt hat. Leben und Sterben: eine Frage der Registratur.“ Kuno Bärenbold

Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene (Hg.): Fesselballon. Erzählungen, Gedichte, Hörspiele. Münster: edition villon im Daedalus Verlag 1992. 167Seiten, 22DM.