Wenn Arme über Reiche weinen

Wie eine endlose mexikanische Fernsehserie in Rußland für freie Straßen und leere Felder sorgt  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Wenn es stimmt, daß die eigentlichen Revolutionen in der Psyche stattfinden, dann vollzieht sich in Rußland zur Zeit die historische Wende. Sogar der Widerstand einiger Moskauer gegen die August-Putschisten wird weit in den Schatten gestellt. Nicht nur die hauptstädtische Elite, sondern auch die Volksmassen in der tiefsten Provinz haben es erstmals begriffen: Auch die Reichen weinen — selbst im Ausland. Auch die Reichen weinen ist der Titel einer mexikanischen TV-Serie mit über dreihundert Folgen. Seit Jahresbeginn fegt sie dreimal wöchentlich Mütterchen Rußlands Straßen leer. Auch die Felder und Weiden blieben anfangs nicht verschont. So wurde die Sendezeit der Seifenoper vom Mittag auf den Abend verlegt. Dies, so die Zeitung 'Trud‘, geschehe vor allem wegen der russischen Kühe. Sie waren gelegentlich ungemolken geblieben.

Für die Russen ein Novum. Denn welcheR westliche Reisende erinnert sich nicht der eifersüchtigen Streitsucht, mit der die DurchschnittsrussInnen über ihr Monopol an Kummer, Armut und Elend im Weltmaßstab wachten. „Eure Sorgen möchten wir haben“, hieß es, wenn von Arbeitslosigkeit, Berufsverboten oder Problemen ethnischer Minderheiten im Westen die Rede war. Wiedervereinigungsfolgen in Deutschland? — „Damit werdet ihr doch spielend fertig!“ — Frauenbewegung? — „Wenn's den Weibern zu gut geht, kommen sie eben auf solche Gedanken“. Und die Dritte Welt gar? — Die hält man noch immer für eine bösartige Erfindung, um die internationale Aufmerksamkeit vom schweren Los Rußlands abzulenken. Und nun dieses Mitleid mit den weinenden mexikanischen Reichen?

Vielleicht rührt es daher, daß die Hauptgestalt der Serie, die junge Marianna, ursprünglich einmal arm war, zumindest dem Drehbuch zufolge. Als Straßengöre wurde sie vom gutherzigen Geldsack Don Alberto adoptiert. In den ersten hundert Folgen konnte man nachvollziehen, wie sie sich unter dem Einfluß von Gouvernanten derart mauserte, daß sie nicht einmal mehr beim Weinen eine Rotznase bekommt. Reich weint es sich eben reinlicher. Und gerade dies ist es, was die meisten von mir befragten Moskauer Verkäuferinnen und Putzfrauen fasziniert: „Die sprechen alle so hübsch kultiviert miteinander und tragen so tolle Klamotten!“ Tatsächlich gibt sich auch die schwere Artillerie von Bösewichtern wendig und leicht. Unter dem Kommando von Stiefmutter Irma versuchen sie zwar, der Marianna das Erbe abzuluchsen. Doch dabei entschuldigen sich die Schurken für jeden Dreck und nennen am Telefon ihre Namen. Selbstverständlich kann nur eine Serie, in der nichts geschieht, über dreihundert Folgen haben, denn sonst müßte sie ja ein inhaltliches Ende haben. Auch dies gefällt den Russen, für die heute fast jede Nachricht über den Zustand ihres Landes einer Hiobsbotschaft gleicht. Die Education Sentimentale am Bildschirm ist zumindest auf der sprachlichen Ebene frei von jeder Ideologie. Die reichen Protagonisten lieben und hassen sich gegenseitig, schnüffeln einander hinterher, aber sie kämen nie auf die Idee, dies mit Patriotismus oder sonstigen politischen Erwägungen zu begründen.

„Wenn sich schon, wie es heißt, das ganze Land dieses Brechmittel ansieht, dann kann man nur noch über das Land weinen“, klagt ein Leser in der Zeitschrift 'Argumenty und Fakty‘. Wie es scheint, völlig zu Unrecht. Tatsächlich hat mit den „weinenden Reichen“ in Rußland ein Stückchen Zivilisation über die Barbarei triumphiert. Daß die faschistoide Meute russischer Patrioten, die bis zu ihrer Vertreibung vor dem Fernsehzentrum Ostankino ausharrte, nicht zu Märtyrern wurden, ist auch dem weinerlichen Melodrama zuzuschreiben. Panik löste z.B. der Vorschlag der Zeitung 'Iswestija‘ aus, man könne ja den rot- braunen Vaterlandsrettern ein wenig der geforderten Sendezeit zugestehen — auf Kosten der „politisch neutralen“ Vorabendserie. Bürgermeister Luschkow begründete gar den Polizeieinsatz in Ostankino damit, er befürchte, von den Massen gelyncht zu werden, wenn die ordnungsgemäße Ausstrahlung der Serie gefährdet werde. Das Argument leuchtete auch meinem Zeitungsmann ein: „Wenn die an die Macht kommen, dürfen wir hier nur noch die 'Prawda‘ und die 'Sovjetskaja Rossija‘ verkaufen, und im Fernsehen gäb's wieder von früh bis spät Schwanensee.“