Islamisten fordern Kairo heraus

Bürgerkrieg in einer ägyptischen Kleinstadt/ Anhänger islamistischer Gruppen haben eine Doppelmacht errichtet/ Regierung will per Gesetz gegen den „religiösen Terrorismus“ vorgehen  ■ Aus Kairo Ivesa Lübben

Bei schweren Unruhen in Oberägypten sind während der letzten Wochen mindestens fünfzig Menschen ums Leben gekommen. Immer wieder kam es zu Schießereien zwischen den „Gamiat Islamia“, den sogenannten „islamischen Gruppen“, christlichen Bewohnern der Kleinstadt Deirut und umliegender Dörfer sowie ägyptischen Polizeieinheiten. Inzwischen hat die Regierung ein Kontingent von mindestens 5.000 Mitgliedern einer paramilitärischen Truppe für „innere Sicherheit“ dorthin entsandt. Die „Gamiat“ verfügen in der 60 Kilometer von Assiut entfernten Kleinstadt über eine besonders große Anhängerschaft. Längst haben sie in Konkurrenz zu den staatlichen Institutionen eigene Gesetze verhängt: es gilt striktes Alkoholverbot, besondere Steuern werden erhoben, und wer diese Regelungen nicht einhält, hat mit schweren körperlichen Strafen zurechnen. Ein „Verteidigungsministerium“ ist für Aktionen gegen staatliche Sicherheitskräfte verantwortlich, im „Geheimdienst“ arbeiten vor allem Kinder, die die Erwachsenen ausspionieren, Flugblätter verteilen und untergetauchte „Gamiat“-Mitglieder mit Lebensmitteln versorgen.

Andererseits wissen die „Gamiat“ auch, was sie den Leuten bieten müssen, um sie nicht gegen sich aufzubringen. Fleisch und Gemüse werden von ihnen 30 Prozent billiger auf den Markt gebracht, einmal in der Woche werden kostenlose Lebensmittel an die Armen verteilt.

Die gewalttätigen Auseinandersetzungen der „Gamiat“ mit der ägyptischen Polizei eskalierten in einen regelrechten Bürgerkrieg, seit vor zwei Wochen das Oberhaupt der „Gamiat“, Sheikh Arafa Darwisch, in dem Dorf Sanbo nach dem Freitagsgebet von Polizisten erschossen wurde. Bei „Rache“-Aktionen der Islamisten-Anhänger wurden dann auch Läden und Wohnungen christlicher Bewohner der Region geplündert und angezündet. Als der Stadtdirektor von Deirut die Lage in Sanbo inspizieren wollte, wurde auf ihn ein Anschlag verübt, bei dem zwei Polizisten ums Leben kamen. Dies war für die Regierung das Zeichen, nunmehr zur Großoffensive überzugehen. Das Gebiet wurde von den aus Kairo anrückenden Sondereinheiten umstellt und hermetisch abgeriegelt. Seither wird es in einer Art Großrazzia durchkämmt. Die Straßen sind leer, die Geschäfte geschlossen, die Schulgebäude dienen als Kasernen.

„Wir sind hier, um der staatlichen Ordnung wieder Respekt zu verschaffen“, erklärte der stellvertretende Innenminister General Abdel Rahim Nahhas, der den Einsatz leitet, „wir werden nicht abziehen, solange das Problem nicht grundlegend gelöst ist.“ Inzwischen wurden nach offiziellen Angaben 270 Personen zumindest vorübergehend verhaftet, Die Opposition spricht von 600 Menschen. Gewehre, Artilleriegeschosse und sogar Panzerabwehrwaffen wurden beschlagnahmt.

In diesen Tagen herrscht eine Art Ruhe vor dem Sturm. Die Mitglieder der „Gamiat“ haben sich jetzt in die Berge zurückgezogen, wo sie möglicherweise über größere Waffenlager verfügen. „Die Schlacht in den Bergen steht noch bevor“, heißt es in der linksoppositionellen Zeitung 'Al Ahali‘. Die Zeitung 'Al Scha'ab‘ meldet, die Polizei habe für die bevorstehende Schlacht bereits Hubschrauber angefordert und warnt vor einer sehr blutigen Auseinandersetzung mit vielen Toten. Die „Gamiat“-Mitglieder hätten das Gefühl, daß man sie liquidieren werde, und würden daher kämpfen wie Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben.

In Kairo ist inzwischen eine Art „Antiterrorismus“-Gesetz in Vorbereitung, in dem schwere Strafen bis zur Todestrafe angedroht werden. Schon jetzt stellen allerdings viele politische Beobachter in Frage, ob dem „religiösen Terrorismus“ damit beizukommen sei. Die Unruhen seien vielmehr als Folge schwerer Wirtschaftsprobleme zu betrachten. Die „Gamiat“ haben nicht nur in der jetzt umkämpften Gegend das Sagen, sondern auch in anderen Provinzen Oberägyptens und zunehmend auch in den Dörfern des Nildeltas. Vor einer Woche wurde das Landwirtschaftsreformgesetz aus der Zeit von Präident Nasser revidiert, das den Pachtbauern ein erbliches Nutzungsrecht an dem von ihnen bearbeiteten Boden garantierte. Durch die Aufhebung des Gesetzes sind rund eine Million Bauerfamilien von der Vertreibung bedroht. Damit sind die nächsten schweren Konflikte bereits abzusehen.