In aufrechter Ekstase

Die „Love Parade“ in Berlin: Wochenende der idealen Gemeinschaft, geeint im Tanze. Die Körper-Fragmente als ornamentales Ganzes bei 120 Beats pro Minute: Rhizom rules. Det is Berlin.  ■ Von Harald Fricke

Drei Pärchen haben sich wenige Stunden zuvor noch das Jawort gegeben und strömen nun frisch getraut in der Masse der Swinger mit. Es ist ihr Umzug, es ist „Love Parade“. Lauter und schriller als der Tuntenmarsch am Christopher Street Day will die deutsche Clubberjugend an diesem Wochenende zeigen, was für sie Leben bedeutet: Fete feiern, zusammengehören und sehr viel Liebe machen, ungefähr alle halbe Stunde, bei 120 Beats per Minute — zwei Tage lang. Die neunziger Jahre kosten den Einzelnen so viel Mut zur Lebensphilosophie und so viel Kraft bei den Bemühungen um eine praktikable Selbsttechnik, daß kein Platz für Ideologien übrigbleibt. Anders als in den kurzen Sommern der Autonomie des letzten Jahrzehnts geht beim Techno-Sturm auf den Ku'damm keine Scheibe zu Bruch: Auf 2.000 Metern ziehen 10.000 Bürgerinnen und Bürger der House-Nation tanzbeinschwingend und trillerpfeifend über den Berliner Vorzeigeboulevard an der Gedächtniskirche vorbei. Zum ersten Mal empfinden die DemonstrantInnnen die sie begleitenden Polizisten als freundliche Wesen; mit schlechter Garderobe zwar, doch dafür gutem und festem Schuhwerk zum Tanzen.

Vorneweg fährt eine Wanne, blinkt blau und geleitet einen Lkw- Konvoi. Auf jeden Wagen ist eine Minidisco mit wütender Meute und einem Discjockey als wackerem Einpeitscher gepfercht. Die Lautstärke zählt. Der Mega-Van von West Bam produziert fast schon ein Rockspektakel, der Laster von Underground- und Tarnfarbenfetischist DJ-Tanith wogt unter dem Tackern der Bässe wie ein Dampfschiff, das hin und wieder auch orange Wolken ausstößt. Heute kann man den sonst so grimmen Techno-Kapitän ausnahmsweise einmal lächeln sehen. 1992 triumphiert Techno, und der lang aufgeschossene Mann am Mischpult hat es in mühevoller Clubarbeit möglich gemacht. Sein jubilierendes Fußvolk umringt ihn in aufrechter Ekstase. Andere werfen dem schaulustigen Durchlaufpublikum am Straßenrand Weingummiherzen zu und gurren ihr Motto von der endlosen Liebe. Hausfrauen reihen sich mit ihren Einkaufstüten ein. Die Menschen sind schön, ihre Leiber von Hanteln gestählt und von der Natur gut bestückt. Fast die Hälfte hat gerade erst das Teenager-Alter überschritten. Kinder der achtziger Jahre: Sie sind mit dem Computer aufgewachsen, wurden in der Schule über Aids aufgeklärt und kennen Woodstock aus der Videosammlung ihrer Eltern. Sie lassen sich das Ereignis der Love Parade nicht nehmen.

Der Autokorso macht unterdessen einen Höllenlärm wie nach dem WM-Gewinn der deutschen Fußballkicker vor zwei Jahren. Die Paraden sind in Berlin sowieso seltener geworden, seit die Regimenter der Alliierten abgerückt sind. Der karnevalistische Trubel erweckt bei einigen älteren Herrschaften Erinnerungen an alte preußische Tugenden. Früher hatte alles mehr Schmiß, dafür feiert man heute friedlicher und völkerverbindender als der Rest der Welt. Ein paar amerikanische Weekender sind extra für die Party herübergejettet und halten Ausschau nach interessanten Menschen. Münchener „Pash“-Models lieben sich mit „Saxen“, die „Basis Leipzig“ zieht Clubber aus Kreuzberg an. Alles ist gut. Nur ein Ehepaar aus Köln beschwert sich am Rande über den Krach, doch der angesprochene Polizeiobere winkt ab: „Det is Berlin.“ Er gehört schließlich dazu und wacht hier über seine House-Nation. Am Ende folgt die letzte Wanne, eine weniger fröhliche Schar verschwitzter Straßenfeger und ein Spülwagen der Berliner Stadtreinigung. Nach einer zweistündigen Entfesselung der Produktivkräfte durch das Freizeitkollektiv ist der Ku'damm praktisch wieder besenrein.

Die Love Parade ist tribaler Verschwendungsritus, postindustriell. Von Freitag abend bis in die Nachmittagsstunden des darauffolgenden Sonntag wird getanzt, wo immer sich eine öffentliche Beschallung anbietet. Auf dem Flugplatz Johannisthal im Berliner Südosten, auf dem Ku'damm im ehemaligen Zentrum der Stadt, in den unzähligen Clubs an der verkehrsgünstig gelegenen Peripherie. Man braucht dazu lediglich ein Auto oder ein Mountainbike, Geld und gute Laune. Wieso der Massenauflauf zur individuellen Ganzkörperbefriedung funktioniert, bleibt jedoch ein Rätsel. An der Musik liegt's nicht, die ist jedes Wochenende zu haben.

Das Ich muß, wie so oft, erst einmal verlorengehen. Die seriellen Rhythmuspattern und Geräuschcollagen erzwingen zwar schon aufgrund ihrer Permanenz und Lautstärke eine Fremdbeteiligung, doch die angespannte Feinmotorik allein schützt vor dem Denken nicht. An irgendeinem Punkt erfaßt der eigene Tanz die Distanz zum Selbst. Dabei bildet die Choreographie des Nachtlebens gerade in ihrer mustergültigen Ordnung die uneingeschränkte Macht der Meta-Verbindung des Gesellschaftskörpers ab und gibt trotzdem jedem Einzelnen sein partikulares Recht wieder. Von der Gesellschaft im Tanze — als idealer Gemeinschaft — hatte bereits Schiller geschwärmt. Die moderne Variante heißt in der Sprache des globalen Netzes: bewegte Fragmente, Chaostheorie und der Geist der Freiheit. Rhizom rules.

Auf der Tanzfläche in den Panzerhallen rudern abertausend Arme, ohne sich zu berühren. Trockeneisnebel erschwert den Umgang mit der Masse zusätzlich, mitunter ist die eigene Hand vor Augen nicht mehr auszumachen. Die Unübersichtlichkeit schafft eine allen gemeinsame Realität, die Beschäftigung mit dem Unwägbaren macht Spaß. Der Raum füllt sich, das Spiel wird komplizierter. Es gilt, dem Aufprall des anderen auszuweichen, obwohl man sich ihm nähern muß. In Momenten höchster Ekstase verfließen die Körper ineinander, je schneller der Beat schlägt. Drinnen und Draußen existieren nicht mehr. Das ist vielleicht Liebe, zumindest passiert sonst nichts anderes mehr bis morgens um fünf. Nur wenige Paare bleiben — als Opfer ihres Selbstwertgefühls — auf der Strecke. Sie haben sich in den leeren NVA-Garagen hinter dem Festgelände verschanzt und starren unglücklich in das Licht einer mitgebrachten Kerze. Das Händchenhalten der gescheiterten Partygänger wirkt im Angesicht des beiläufigen Massenreigens deprimierend. In einer Gesellschaft freier und gleicher Geister darf es keine Gespenster geben.

Auf dem Festplatz mühen sich die Veranstalter redlich, die Harmonie zu stärken. Das Geld ist abgeschafft, kleine Pappkarten werden am Eingang gekauft und an den Ständen gegen Getränke, Hähnchen und Popcorn getauscht. Diaprojektionen werfen ornamentale Bilder auf die Körper der Anwesenden und verschweißen sie dadurch zu einem beweglichen Bild. Es erinnert an Parties und Happenings zur Zeit der Factory. Damals erzeugten Velvet Underground mit unendlich monotonem Schlagzeuggeraschel und rückkoppelnden Gitarren den Fluß. Heute sind es Maschinenprogramme und beliebig verknüpfbare Geräusche, an denen sich die eigene Befindlichkeit abarbeiten, brechen und wiederfinden kann. Techno wird immer weitergehen, wenn auch in anderen Formen der Therapie.