: Der Pionier des Tennis von hinten
■ Andre Agassi besiegt in Wimbledon nach einem dramatischen Finale das Aufschlag-Wunder Goran Ivanisevic mit 6:7, 6:4, 6:4, 1:6, 6:4 und leitet die Renaissance des Grundlinientennis ein
Berlin (taz) — Wimbledon gehört den Aufschlägern? Den Serve-and- Volley-Spezialisten? Den reinen Angriffsspielern? Da lacht sich der Agassi ins geballte Fäustchen. Denn er, der aggressivste unter den Grundlinienspielern, ist der neue König von Wimbledon. Und als solcher küßte er gleich nach der Eroberung sein neues Land: Nach dem Matchball ließ er sich der Länge nach auf den Rasen plumpsen und küßte papstgleich den heiligen Boden. Gerührt verfolgte das Publikum diese neue Wimbledon-Sieger-Variante, und nur Goran Ivanisevic, der Verlierer, erbarmte sich. Er ließ seinen Schläger fallen, nahm den heulenden Agassi in die Arme und flüsterte: „Du hast es verdient, Andre.“ Eine Geste, die den Tränenstrom des Amerikaners nicht gerade eindämmte. Agassi wurde von einer Übersprungshandlung nach der anderen heimgesucht: Völlig orientierungslos irrte er über den Centre Court, seine Teddy-Augen suchten seine Freundin, die in der Loge völlig aufgelöst mit ihrem Taschentuch kämpfte. Dann aber riß sich der Bibelfreak zusammen und ließ sich wie in Trance vom Publikum umjubeln.
Der phänomenale Sieg Agassis war eine noch größere Überraschung als der Vorjahressieg von Michael Stich. Ein Grundlinienspieler gegen ein Aufschlagmonster? Keine Chance, da waren sich die Experten sicher. Der Durchmarsch von Goran Ivanisevic schien diese These zu bestätigen: Der beste Aufschläger der Welt dominierte seine Gegner mit seinem unbeschreiblich harten Service. Stefan Edberg: „Er tippt den Ball zweimal auf — und dann macht es bumm.“
Insgesamt schlug er im Laufe des Turniers 206 Asse, wobei all die Aufschläge unterschlagen sind, die die Returnierer noch knapp berühren konnten. Zugegeben, eine tolle Leistung. Aber ebenso stinklangweilig für das Publikum wie deprimierend für die Gegner. Beim Halbfinale zwischen den Draufhauern Ivanisevic und Pete Sampras beispielsweise konnten die Ballwechsel an einer Hand abgezählt werden, während das Gähnen der Zuschauer stetig zunahm.
So avancierte das Tête à Tête des besten Aufschlägers gegen den besten Returnierer zum Kampf der Systeme. Und schon nach dem ersten Satz war klar: Wenn Ivanisevic weiter so aufschlägt, wird er gewinnen. Einfach so, mit purer Gewalt, wenig Technik und viel Geduld. Er holte sich den ersten Satz im Tiebreak, und die Stimmung auf dem Centre Court — dort war Agassi der erklärte Liebling — sank. Nicht aber bei Agassi. Er zeigte ob all der linkshändigen Aufschlagwucht des Kroaten keinerlei Frustrationserscheinungen und blieb zu dessen Ärger gleichmäßig heiter. Mal löffelte er hier nach dem Ball, mal fischte er da. Keine Chance, wenn der erste Service kam. Doch mußte Ivanisevic zweimal aufschlagen, so erlebte er sein blaues Wunder. Agassis Returns sausten dem Kroaten nur so um die Ohren. Im Spiel auf dem Feld war der 20jährige dem Amerikaner deutlich unterlegen: „Ich habe alles gegeben, alles versucht. Aber er hat mich von links nach rechts gejagt, als wäre er mein Coach“, klagte Ivanisevic nach dem Match. „Wenn einer den Ivanisevic breaken kann, dann Agassi“, orakelte John McEnroe, der im Halbfinale seinem Kumpel Andre unterlag. Und das Großmaul behielt recht. Im zweiten und dritten Satz gelang dem Amerikaner je ein Break. Was ihn derart beanspruchte, daß er sich erst einmal ausruhen mußte und Satz Nummer vier 1:6 abgab. Doch immer noch wirkte er erstaunlich gelassen: „Ich war mir sicher, daß Goran einen Fehler macht, wenn es darauf ankommt“, sagte der Mann, der bisher immer Fehler machte, wenn es darauf ankam. Dreimal schon stand er im Finale eines Grand-Slam-Turniers, und dreimal verlor er. Doch diesmal behielt er recht: Im Aufschlagspiel beim Stand von 4:5 für Agassi gingen dem jungen Kroaten die Nerven durch. Verlassen von jeglicher Feinnmotorik, beging er zwei Doppelfehler und schlug den Matchball ins Netz — das Aufschlagmonster war besiegt, ein Pionier des Grundlinienrevivals geboren: „Mit diesem Thriumph habe ich allen Grundlinienspielern dieser Welt wieder Selbstvertrauen gegeben“, predigte die Haarpracht aus Las Vegas hernach. Doch gänzlich verwerfen wollte er die Serve-and-Volley- Mär nun doch nicht: „Goran ist anders als alle anderen Aufschlagspezialisten. Die verlassen sich auf ihren Aufschlag, sind aber bereit, den Volley zu spielen. Goran verläßt sich nur auf den Aufschlag. Aber er hat noch nie gegen jemanden gespielt, der so gut retourniert wie ich.“
Fragt sich nur, was passiert, wenn der Serve-but-no-volley-Spieler Ivanisevic den Flugball erlernt. Schon jetzt behauptet sein Manager Ion Tiriac, mit dem Kroaten einen neuen Guilamo Vilas zu haben, andere sehen in ihm einen John McEnroe. Wenn es zu letzterem auch bei weitem an Genialität mangelt, so hat sich der einst völlig ungehobelte Mann aus Split unter der Regie von Ex- Becker Trainer Bob Brett doch deutlich verbessert. Statt den wilden Mann zu markieren, scheint er immer öfter über Varianten nachzudenken. So liegt die 'Times‘ eigentlich verkehrt, wenn sie Agassi als den erwachsen gewordenen Hofnarren feiert. Denn viel wirrer im Kopf und wilder als Agassi war Goran Ivanisevic schon immer. miß
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