Kein Kampfeswillen in der »Stumpfen Ecke«

■ In der früher gutgehenden Arbeiterkneipe in der Wilhelminenhofstraße ist die Stimmung so schlecht wie die Lage in dem vis-à-vis gelegenen Kabelwerk Oberspree/ Von ehemals 5.700 Beschäftigten werden dort bald nur noch 1.300 tätig sein

Köpenick. Morgens um sechs und mittags um zwei, wenn im Kabelwerk Oberspree Schichtende ist, läuft der Kneipenwirt der »Stumpfen Ecke« zur Höchstform auf. Flink wie ein Wiesel zapft er Bier, schenkt Korn nach, spült die Gläser, kassiert und findet trotzdem für jeden seiner Gäste, die er mit Namen anspricht, noch ein nettes Wort.

Die »Stumpfe Ecke« in der Wilhelminenhofstraße war einst eine blühende Arbeiterkneipe der Belegschaft des vis-à-vis gelegenen Kabelwerks Oberspree. Vor der Wende, als im Kabelwerk noch 5.700 Arbeiter malochten, war hier nach Schichtschluß in der »Stumpfen Ecke« kein einziger Sitzplatz mehr zu ergattern. Am Tresen warteten die Gäste in Dreier- und Viererreihen auf ihr Bier, erinnert sich der Wirt betrübt. Daran gemessen ist die Kneipe heutzutage fast leer, auch wenn sie an diesem Nachmittag mit 20 bis 30 Kunden immer noch einen vergleichsweise gut besuchten Eindruck macht. Doch die einstmals lockere Feierabendlaune ist einer depressiven Stimmung gewichen. Seit der letzten Kündigungswelle zum 30. Juni ist die Belegschaft des Kabelwerks Oberspree auf 2.083 Arbeiter und Arbeiterinnen geschrumpft. Bis Jahresende, so der Plan der britischen Unternehmensgruppe BICC, die sämtliche Kombinate des einst größten DDR-Kabelwerks erstanden hat, soll das Werk in der Wilhelminenhofstraße auf 1.300 Arbeitnehmer abgespeckt sein.

Von Kampfeswillen ist in der »Stumpfen Ecke« jedoch nichts zu spüren, auch wenn es hier nur zwei Gesprächsthemen gibt, wie der Wirt weiß: »Thema Nummer eins ist die große Unsicherheit und die Frage ‘biste bei der nächsten Kündingswelle zum Ende September dran?‚ Und Thema Nummer zwei ist das Geld.« Mit einem durchschnittlichen Leistungslohn von 1.500 Mark netto »kannste doch nicht leben und nicht sterben«, erzählt ein 47jähriger Arbeiter des Kabelwerks beim Bier. »Wir haben doch die gleichen Ausgaben wie die im Westen.« Die Stimmung im Werk beschreibt er mit den Worten: »Früher gab es einen kollektiven Zusammenhalt, heute kämpft nur noch jeder gegen jeden, aus Angst, der Nächste zu sein.« Selbst viele leitende Angestellten hätten »echt Angst, in den Urlaub zu fahren, weil sie nicht wissen, was hinterher mit ihnen passiert«.

Von einer explosiven Stimmung der Ostler, wie manche Gewerkschaftler Glauben zu machen suchen, hat der Arbeiter zumindest im Kabelwerk Oberspree noch nichts gespürt. Im Gegenteil. »Die Leute resiginieren eher und sind total depressiv.« Ihm persönlich wäre es zwar auch lieber, wenn sich der angestaute Frust in großen Demonstrationen und Aktionen entladen würde. »Aber wer seinen Arbeitsplatz schon verloren hat, macht nichts mehr, weil er sowieso schon auf der Straße sitzt. Und die, die noch Arbeit haben, haben einfach Angst.« Als weiteren Grund vermutete der 47jährige, daß im Kabelwerk eine große Gruppe in den Vorruhestand entlassen worden sei, außerdem seien die Ostberliner »einfach pflastermüde«. Bei diesem Stichwort schaltet sich ein Tresennachbar, der dem Gespräch bislang zustimmend gelauscht hatte, empört ein. »Was heißt hier pflastermüde? In Berlin ist doch nie viel gepflastert worden«, erinnert er an die magerere Teilnehmerzahl bei den Demonstrationen zur Treuhandanstalt. Die geplante Ost-Partei halten die beiden und der Wirt für »völligen Blödsinn«. Die meisten Ostler hätten die Nase von Parteien gestrichen voll. »Das einzige, was vielleicht helfen könnte, wäre, wenn die Ost-Bundestagsabgeordneten die Interessen der Ossis stärker vertreten würden.«

Selbst die Biere in der »Stumpfen Ecke« sind für die Arbeiter gezählt. Wenn es ihm nicht gelinge, neue Kundschaft zu finden, müsse er die Kneipe wohl zumachen, befürchtet der Wirt. plu