Familienuntergrund

Über die Uraufführung von Marlene Streeruwitz' zweitem Stück „Sloane Square“ in Köln  ■ Von Gerhard Preußer

Der Anfang des Lebens ist Frauensache, das Ende ist weniger geschlechtsspezifisch. Die Frau — das Leben, der Mann — der Tod, die Doppelgleichung ist zu einfach. Töten kann jeder. Meistens ist es Männersache. Doch der mächtigste Männerbund, die katholische Kirche, ist für das Recht auf Leben (der Föten jedenfalls), die Mehrheit der Frauen ist für das Recht auf Töten (notfalls). Tödliche Gewalt bricht über die Frauen herein, aber sie setzt sich auch fort in ihnen selber. Sie lassen sich selber absterben.

Marlene Streeruwitz' zweites Stück könnte der erste Akt einer Abtreibungstragödie sein, wenn es um Handlung ginge. Doch eigentlich ist es das Traumspiel einer Träumerin. Der Realismus ist auch hier wieder eine Täuschung.

Zwei Touristenfamilien stecken in der Falle: Im Unterweltloch des Londoner U-Bahnhofs Sloan Square fährt kein Zug mehr. Die Männer, zwei Väter und ein Sohn, verdrücken sich schnell und wollen ein Taxi holen. Zurück bleiben die zwei Ehefrauen und die schwangere Freundin des Sohnes. Was als Kleinbürgersatire beginnt (die Männer wetteifern orgiastisch verzückt, wer die besten Videokamera hat, die Frau zeigt triumphierend ihre Urlaubsbeute: ein Wasserkochgerät), wird schnell zum Alptraum. Angekündigt von hochdramatischem Operngebrüll („Verraten! Verraten!“) stürzt eine Rockband herein, ersticht eine menschengroße Puppe und wirft sie auf den Bahnsteig. Vier solcher Puppen werden im Verlauf des Stückes in identischen Abläufen auf die Bühne geworfen: Die Gewalt ist anonym, sinnlos, symbolisch und wiederholbar.

Eine Stadtstreicherin kommt auf die Hinterbühne, und auf das Stichwort Frau Marenzis „Ich finde. Sie soll das Kind nicht bekommen“, beginnt die Stotterin, die Leiche zu zerschneiden und sortiert die Teile in ihre Plastiksäcke.

Eine Nonnenprozession durchquert stumm das Gewölbe, ein galanter älterer Herr mit Namen D'Annunzio macht den Damen seine Avancen, und ein farbiger Strandverkäufer umtänzelt das Frauentrio und ruft seine Ware aus. In dieser Bewußtseinshöhle, in der alles möglich ist, bricht der Lebensuntergrund der Frauen auf: die junge Clarissa ist schwanger und weiß nicht, was tun, Frau Fischer gelingt es nicht, ein Kind auszutragen bis zur Geburt, und Frau Marenzi hätte am liebsten keine Kinder gehabt.

Diese Mutter zweier Kinder ist die stärkste Rolle des Stücks. In der Kölner Uraufführung wird sie von Elisabeth Krejcir anfangs als engstirnige Familienkommandeuse karikiert. Doch dann erscheint hinter dieser biestigen Dummheit eine exemplarische Frauengeschichte. Sie setzt sich neben die Stadtstreicherin und schnibbelt solidarisch mit ihr (Puppen-)Leichenteile. Dabei erzählt sie von ihren Selbstmordplänen, als sie noch jünger war. „Doch dann ist alles normal geworden.“ Die Normalität dieser Frau ist das Resultat einer heimlichen Selbsttötung. Töten ist keine Frauensache, wohl aber das Ordnen der Überreste, den Leichenmüll mit sich herumschleppen, wegschaffen. Elisabeth Krejcirs Spielweise folgt genau der Entwicklung des Stückes: von der billig belachbaren Komödie zur pathetischen Tragödie.

Als die Männer zurückkommen, bricht der Streit über Clarissas ungeborenes Kind offen aus: Mutter Marenzi brüllt ihre Ratschläge nur noch. Die Männer verstehen natürlich überhaupt nicht, worum es geht: „Man bekommt Kinder. Ganz einfach. Und dann sind sie da. So war das immer, und so wird das bleiben“, sagt Herr Marenzi. Die Männer sind für das Kind, aus Ahnungslosigkeit, die Frauen sind dagegen, aus Erfahrung. Dazwischen zappelt hilflos Clarissa und stammelt fassungslos: „Ist das so. Alles?“ Doch die ältere Frau bestätigt ihr: „Ich glaube, so ist es.“ Und mit Clarissas Verzweiflungsgestotter („Aber. Das kann man doch nicht aushalten. Wie soll man das aushalten. Das.“) bricht der Dialog ab. Die Züge fahren wieder, die Fahrgäste füllen die Bühne, alles kommt wieder ins alte, falsche Gleis. Man hat nur vergessen, die Adressen auszutauschen.

Marlene Streeruwitz bedient sich derselben dramaturgischen Technik wie in Waikiki Beach, ihrem kürzlich ebenfalls in Köln uraufgeführten ersten Stück: eine Alltagsgeschichte, simpel bis zur Banalität, wird durchbrochen von träumerischem Spielmateriel und Zitaten aus der Weltliteratur. Während das Abgleiten der realistischen Handlung in bloß assoziative Verknüpfungen, in unwahrscheinliche Konstellationen und Bilder eine traumhafte Logik hat, bleiben die einmontierten Klassikerzitate Fremdkörper. Während Frau Marenzi den Bahnsteig aufräumt und die Leichen beiseite schleppt, zitiert sie Bruchstücke von zwei Monologen aus Goethes Iphigenie. Der Bezug zur Situation wird nur im Kopf, nicht aber auf der Bühne deutlich. Und wenn die Stotterin die Rede des Geistes Maria Stuarts aus Gryphius' Trauerspiel Ermordete Majestät oder Carlus Stuardus von 1649 rezitiert, wird das Zitatengeklittere zum literarischen Ratespiel. Marlene Streeruwitz hat Anleihen eigentlich nicht nötig. Ihre eigenwillige Kunstsprache, von Punkten durchlöcherte, synthetisierte Alltagssprache, kann auch das scheinbar Trivialste bühnenfähig machen.

Der Stil dieser Stücke ist so gar nicht das, was als weibliche Ästhetik ausgegeben wird: hart, konzentriert und deutlich, ohne Angst vor Direktheit und moralischem Appell. Doch das sind Qualitäten, die bei deutschen Stücken selten sind, die die Bühne aber gut verwerten kann. Torsten Fischer, der auch das erste Stück schon inszeniert hatte, ist ein Regisseur für solche temporeiche Deutlichkeit. Diesmal jedoch hat er nicht nur den engen Raum der Schlosserei, sondern die Weiten der Bühne des Schauspielhauses zu füllen. Jens Kilian hat ihm eine detailgetreue U- Bahn-Station dort hingestellt, auf der das notorische Plakat mit einem schreienden Neugeborenen schrill verkündet: Geburt ist blutig, schmierig, einsam. Zwischen ungesehener Mutter und dunkelgrünem Krankenpflegerkittel bleibt dem neuen Menschen nur der Schrei. Das kurze, handlungsarme Stück wird aufgeblasen durch Statistenmassen zu Beginn und Ende, dann stehen die U-Bahn- Pendler gelangweilt vor uns und warten auf den Zug. So kann sich ein Stück mit Studiobühnen-Dimensionen tatsächlich behaupten auf der großen Bühne. Nach der normalen Spielfilmlänge ist die Spätvorstellung im Kölner Schauspielhaus allerdings vorbei.

Marlene Streeruwitz: Sloane Square. Kölner Schauspiel (Schauspielhaus). Inszenierung: Torsten Fischer. Bühne: Jens Kilian. Mit Elisabeth Krejcir, Karina Fallenstein, Katja Bellinghausen. Nächste Vorstellung am 12.Juli.