Megaprojekt im Gangesdelta

Bangladeschs „Flood Action Plan“ ist ein Gradmesser für die Auswirkungen des Erdgipfels in Rio  ■ VON BOB COUNSELLER

Nach dem Erdgipfel in Rio bezeichnete der Generalsekretär der Konferenz, Maurice Strong in einem BBC-Interview das Mammuttreffen als ein „Ereignis des Übergangs“. Sein Erfolg könne nicht eher bewertet werden, bis klar sei, in welchem Umfang die Regierungen tatsächlich die unterzeichneten Verträge umsetzten. Offensichtlich blieben viele Fragen unbeantwortet — auch diejenige, inwiefern die Verträge des Erdgipfels auch die bereits finanzierten und laufenden Projekte im Süden berühren.

Um von einem Übergang zu sprechen, wie es Maurice Strong tut, muß ein Maßstab vorhanden sein, mit dessen Hilfe eine Veränderung gemessen werden könnte. Im Moment gibt es keinen historischen Präzedenzfall. Als Beispiel, an dem sich eine Veränderung der Politik zeigen müßte, kann kein besseres gefunden werden, als der laufende „Flood Action Plan“ (FAP) in Bangladesch.

Der umstrittene FAP ist hervorgegangen aus vier der Regierung Bangladeschs übergebenen Flutkontrollstudien, die nach einer extremen Überschwemmung 1988 erstellt wurden. Die Regierung, hierdurch gewissermaßen in die Enge getrieben, bat die Weltbank, diese Studien zu einem umfassenden Dokument umzuarbeiten.

Das Flut-Programm ist heftig umstritten

Auf dem G-7-Treffen 1989 in Paris wurde die Weltbank beauftragt, die Koordination eines Projektes zu übernehmen, das sich offiziell die Lösung des Flutproblems in Bangladesch zum Ziel gesetzt hat. Dieses als Flood Action Plan bezeichnete Projekt umfaßt insgesamt 26 Komponenten, die schwerpunktmäßig den Bau von Dämmen entlang der drei großen Ströme des Deltagebietes neben dem Erstellen von wissenschaftlichen Studien vorsehen, um ein flutfreies Gebiet zu sichern.

Das vom US-amerikanischen Ökonom James Boyce als „Megaprojekt“ bezeichnete Unterfangen hat starke Bedenken und Kritik bei Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) innerhalb und außerhalb Bangladeschs, bei Wissenschaftlern und Ingenieuren ausgelöst. Überschwemmungen in der Monsunzeit sind ein jährlich wiederkehrendes Ereignis, wobei die Ausmaße variieren. Sie sind die Grundlage eines der weltweit fruchtbarsten Anbaugebiete für Naßreis, in einigen Regionen des Deltagebietes sind drei Reisernten ohne künstliche Bewässerung pro Jahr möglich. Unzählige Flüsse und Kanäle verbinden die drei großen Ströme — den Ganges, Brahmaputra und den Meghna — miteinander. Sie ermöglichen den Abfluß der ungeheuren Wassermengen, die nach der Schneeschmelze den Himalaya verlassen, transportieren sie durch Bangladesch und schließlich in den Golf von Bengalen.

Der Brahmaputra, der innerhalb Bangladeschs als Jamuna bezeichnet wird, ist nicht nur der größte, sondern auch der gefährlichste der Ströme. Der FAP sieht vor, mit dem Bau von Dämmen am Jamuna zu begingen. Bis Ende 1992 sollen neue Deiche gebaut und bereits vor 20 Jahren gebaute Dämme repariert und ausgebaut werden.

Dämme als Schutz vor Katastrophen

In Bangladesch sind viele Erfahrungen über Maßnahmen zur Flutkontrolle und über den Bau von Entwässerungs- und Bewässerungskanälen und -dämmen gesammelt worden. Die Konstruktion von Dämmen wird häufig als die erste Maßnahme in der Geschichte bezeichnet, die dem Schutz vor Katastrophen dienten. Schutzmaßnahmen wurden nicht nur im Gangesdelta von Bangladesch, sondern auch in anderen Deltagebieten seit Jahrhunderten ergriffen.

Bereits über 6.000 Kilometer lange Deichanlagen gibt es in Bangladesch. Zählt man hierzu auch die auf Dämmen befindlichen asphaltierten, mit Steinen befestigten und unbefestigten Straßen und Wege, dann durchzieht das Land ein dichtes Netz von kleinen und großen Dämmen. Seit den sechziger Jahren wurden verstärkt Deiche, die auch die Aufgabe hatten, Wasser für die Trockenzeit zu speichern, im Rahmen der „Flood Control“ und „Draining Projects“ (FCD/1) gebaut. Hinsichtlich ihrer technischen Merkmale werden sie identisch sein mit den vom FAP geplanten Deichen. Auch Deiche, die ein bestimmtes, meist tiefliegendes und besonders von Überflutungen betroffenes Gebiet umgeben, wurden in Bangladesch seit den sechziger Jahren gebaut, um den Reisanbau zu schützen.

Rund 800 Kilometer lange Deiche sind an der Küste errichtet worden, um die Ernte vor einer Versalzung und die Küstenbewohner vor kleineren Sturmfluten zu schützen. Insgesamt mehrere hundert Kilometer lange Dämme existieren bereits an den Ufern großer Flüsse. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Dämme, die die Aufgabe haben, Städte zu schützen oder entlang kleinerer Flüsse zu verlaufen. Mujibul Hauq Dulu, Koordinator der NGO „Bhulpur Development Project“, weist auf die negativen Auswirkungen von Deichen für die innerhalb und an den Ufern des Jamuna lebenden über 1,2 Millionen Menschen hin: „Es gibt Leute in meinem Projekt, die seit über 50 Jahren auf den „Char“-Inseln leben (Inseln, die an- und weggeschwemmt werden durch die Wassermassen des Jamunas; d. Red.). Sie können sich noch daran erinnern, daß, bevor die großen Deiche an der rechten Uferseite des Jamunas gebaut wurden, die Monsunüberschwemmungen nicht so stark waren. Der FAP plant nicht nur, diese Deiche zu erhöhen, sondern auch auf der linken Uferseite Deiche zu bauen. Was wird aus den Bewohnern der Jamuna-Inseln, wenn sie die Inseln nicht mehr bewohnen können?“

Kaum neue Konzepte, viele Neuauflagen alter

Der FAP besteht aus einer Reihe von Studien über verschiedene Regionen Bangladeschs und unterschiedliche lokale Wasserkreisläufe, die eng verknüpft sind mit Untersuchungen, die sich auf die Auswirkungen sowohl der bestehenden als auch der geplanten Konstruktionen unter anderem auf die Umwelt, insbesondere auf die Fischkulturen, auf die sozio- ökonomischen Lebensbedingungen und auf die Landwirtschaft beziehen sollen. Betrachtet man hingegen genauer die sogenannten Prioritätenprojekte des FAP, so zeigt sich, daß der gesamte Plan kaum neue Konzepte entwickelt, sondern im wesentlichen eine Fortsetzung bereits laufender Projekte darstellt. Diese Projekte haben bereits in der Vergangenheit zu Kontroversen wegen ihres langfristigen ökonomischen Nutzens geführt. Ein Evaluierungsbericht der Weltbank von 1989 kam zu dem Schluß, daß ein großer Mangel hinsichtlich der Koordination verschiedener Baumaßnahmen und eine mangelhafte Ausführung der Planungen besteht. Auswirkungen auf die Ökologie, die sozio-ökonomischen Lebensbedingungen und die Agrarwirtschaft seien weitgehend bei den Planungen unberücksichtigt geblieben. Der Grund hierfür liege auch an der mangelnden Beteiligung der Bevölkerung, den eigentlichen Adressaten. Oberflächlich betrachtet scheint der FAP aus den früheren Fehlern gelernt zu haben und eine Wiederholung ausschließen zu wollen. Die zweite Konferenz aller FAP-Beteiligten in Dakka im Mai ging auf die Kritiker ein und erlaubte ihnen erstmalig, öffentlich auf der Konferenz ihre Bedenken vorzutragen.

Aber Regierungsbeamte und Mitarbeiter von Botschaften geben zu, daß die Projekte, die als laufende Projekte vom FAP übernommen wurden und jetzt zu den Prioritätenprojekten zählen, Ergebnis von „Versprechungen im Zuge von Wahlkampagnen“ sind, mit denen in einer bestimmten Region Wahlstimmen mobilisiert werden konnten. Die Regierung sei sehr an einer schnellen Fertigstellung dieser Projekte interessiert.

Mit Anti-Flut-Projekten auf Stimmenfang

Sehr beunruhigt waren NGOs innerhalb und außerhalb von Bangladesch über die Positionen der Delegationen von Frankreich und vom UNDP. Auf einer hinter verschlossenen Türen parallel zur FAP-Konferenz stattfindenen Sitzung der „Local Consultative Group“ in Bangladesch — Angehörige der einflußreichsten westlichen Botschaften und internationaler Entwicklungsorganisationen gehören dieser Gruppe an — fand ebenfalls eine Diskussion über den FAP statt. Der Öffentlichkeit wurde bekannt, daß diese zwei Delegationen mit dem Verweis auf „politische Notwendigkeiten“ auf der Umsetzung der Prioritätenprojekte beharrten und zu verstehen gaben, daß die Fertigstellung von Studien zu den ökologischen und ökonomischen Auswirkungen nicht abgewartet werden könnte und deren Ergebnisse unberücksichtigt bleiben müßten.

Die US-Botschaft Bangladeschs bestätigte diese Befürchtungen in einem Bericht an das US-Außenministerium: „(...) Sie (die Regierung Bangladeschs; d. Red.) hat öffentlich ihr Interesse deutlich gemacht 1. an interdisziplinärer Projektevaluierung, 2. an der Durchführung von ökologischen Verträglichkeitsprüfungen aller Komponenten des FAP und 3. an einer starken Beteiligung der Öffentlichkeit am Verfahren der FAP-Implementierung. Jedoch gibt es Hinweise, daß bestimmte Projekte mit höchster Priorität höchstwahrscheinlich ohne Berücksichtigung dieser Punkte umgesetzt werden.“

Die Bundesrepublik, deren finanzielle Zusagen für drei FAP-Prioritätenprojekte — die von Frankreich und den Niederlanden mit finanziert werden — insgesamt 20 Prozent des Finanzvolumens des FAP bestreiten, vertritt bis heute den Standpunkt, daß Dämme nicht geschützt werden könnten vor Erosion in Folge einer Verschiebung des Flußbettes. Der Bau von großen Dämmen könnte dadurch in Frage gestellt werden. Trotzdem hält die Bundesrepublik „an ihrem Beitrag zum FAP fest“.

Obwohl die bundesdeutschen Projekte innerhalb des FAP nicht zu denen zählen, die aus „politischen“ Gründen durchgeführt werden, sind sie integraler Bestandteil von ihnen und werden in derselben Region umgesetzt werden.

Ein Expertenteam der Weltbank kam kürzlich zu dem Ergebnis, daß die von der Bundesrepublik und Frankreich getragenen Komponenten 21/22, die sich unter anderem mit Möglichkeiten des Schutzes der Deiche vor Erosion beschäftigen, von „nachgeordneter Wichtigkeit“ seien. Es handele sich um nur „kurzlebige und wenig kostenintensive Vorhaben“. Solche Stellungnahmen passen schlecht zu den vor kurzem verabschiedeten Stellungnahmen auf dem Rio-Gipfel. Zu einer Zeit, in der der Bedarf an Entwicklungshilfe steigt, das Entwicklungshilfebudget der reichen Länder aber sehr gering ist, sollte keine Regierung das Geld verschleudern durch Unterstützung von kurzlebigen und nicht dauerhaften Entwicklungsvorhaben. Dies bringt uns schließlich zu einer der entscheidenden Fragen der UNCED-Konferenz: Wie lange werden die Regierungen des Nordens, die alle Sitz und Stimme in der Weltbank haben, und andere multilaterale Organisationen und Kreditgeber, noch fortfahren können, schlecht geplante und häufig zu ökologischen Zerstörungen führende „Entwicklungsprojekte“ zu unterstützen?

„Deutsche Hilfe von geringer Wichtigkeit“

Die NGOs, die solche Fragen stellen und eine öffentliche Auseinandersetzung über diese Auswirkungen erzwingen, beginnen langsam an Einfluß zu gewinnen. Ein kurz nach dem Erdgipfel fertiggestellter unabhängiger Evaluierungsbericht einer unabhängigen Betriebsprüfungsgesellschaft, die im Auftrag der Weltbank das von ihr finanzierte Namada- Damm-Projekt im westlichen Teil Indiens untersuchte, bewies, daß die Weltbank ihre eigenen Regeln und Vorschriften über Fragen der Umsiedlung von betroffenen Bewohnern und ökologische Standards mißachtet. Ein Rückzug der Weltbank von diesem Projekt wurde zwar nicht gefordert, aber eine erneute Evaluierung auf Grundlage der eigenen Verfahrensvorschriften der Weltbank.

Falls es zum Bau des Namada Damms käme, würden 250 Dörfer überflutet und eine Viertelmillion Menschen umgesiedelt werden. Zum Vergleich: Die Umsetzung nur der von Frankreich getragenen Komponente 3.1 würde bereits zu einer Überflutung von 1.200 Dörfern mit einer Millionen Menschen führen, die auf den Char-Inseln leben. Diese Zahl schließt nicht diejenigen mit ein, die ihr Land durch den Bau von Dämmen verlieren und die einer erhöhten Gefahr von Überschwemmungen in anderen Regionen ausgesetzt würden durch die beabsichtigten Baumaßnahmen.

Flood-Action-Plan auf Alternativgipfel

Die G-7-Länder stellen auf ihrem Weltwirtschaftsgipfel in München erneut ihre Ansichten über die Weltprobleme dar. Da bis auf Italien alle Teilnehmer an der Umsetzung des Megaprojekts in Bangladesch beteiligt sind, wurde der FAP auf dem alternativen Weltwirtschaftsgipfel (The Other Economic Summit, TOES) in München behandelt — eine hervorragende Gelegenheit, eine objektive Bewertung des Vorhabens vorzustellen, die nicht auf den offiziellen Verlautbarungen beruhen kann.

Sowohl die Vereinbarungen auf dem Rio-Gipfel als auch der Bericht über das Namada-Damm-Projekt sind eine Ermutigung für NGOs, die sich für die Verhinderung von fragwürdigen Entwicklungsprojekten einsetzen. Allerdings besteht in beiden Fällen keine Möglichkeit, durch legale Verfahren eine Umsetzung zu erzwingen. Es muß abgewartet werden, inwiefern die politische Praxis sich verändert und die UNCED-Vereinbarungen erfüllt werden. Der tatsächliche Test für die Glaubwürdigkeit dieser Vereinbarungen findet nicht erst bei zukünftigen Projekten statt, sondern im Umgang mit bestehenden Projekten, die sich bereits in der „Pipeline“ befinden.

Das Megaprojekt FAP schließt alle wichtigen Fragen der Umweltproblematik ein, es könnte sich als ein Projekt herausstellen, an dem sich die Auswirkungen des Erdgipfels gut ablesen lassen.