Brasilien treibt Ausbau von Atomenergie voran

Die Bauruine „Angra 2“ soll bis 1997 ans Netz gehen/ Energieminister zu Besuch in Bonn/ Hoffen auf deutsche Gelder  ■ Aus Rio Astrid Prange

Auch nach der UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) setzt Brasilien weiterhin auf den Ausbau von Atomenergie. Die Bauarbeiten des halbfertigen Atomkraftwerks „Angra 2“, 1976 unter der Anleitung von Siemens begonnen und seit 1986 unterbrochen, sollen noch in diesem Jahr wieder aufgenommen werden. Davon will Brasiliens Energieminister Marcus Vinicius Pratini de Moraes, der heute in Bonn eintrifft, nun die Bundesregierung persönlich überzeugen. Die Reise des brasilianischen Energieministers dient in erster Linie dazu, die noch fehlenden 300 Millionen Dollar für den Bau des AKWs zusammenzubekommen.

Die Verzögerung beim Bau des AKWs, das 150 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt in einer malerischen Meeresbucht liegt, kommt die Brasilianer teuer zu stehen. Statt den ursprünglich geplanten 1,8 Milliarden Dollar hat das unvollendete Projekt bisher 4,5 Milliarden Dollar verschlungen. Bis zur voraussichtlichen Fertigstellung im Dezember 1997 sind weitere 1,5 Milliarden Dollar erforderlich. Ein Drittel dieser Summe ist bereits von deutschen Pribatbanken zugesichert worden. 700 Millionen Dollar stammen aus dem brasilianischen Fonds für nationale Entwicklung (FND) und dem Etat des staatlichen Elektrizitätsunternehmens „Furnas“.

„Ohne die hundertprozentige Sicherheit der Finanzierung werden die Arbeiten nicht wieder aufgenommen“, erklärt Moacir Figueiredo Gitirana, Leiter der Bauabteilung bei „Furnas“. Für den Ingenieur, der seit 1977 auf der AKW-Anlage arbeitet, ist die Vollendung von „Angra 2“ eine politische Frage. Moacir Gitirana war es auch, der während der UNCED eine Gruppe von deutschen Parlamentariern und Wissenschaftlern durch die AKW-Anlage führte. Nicht alle Mitglieder der Gruppe hingegen waren von der Notwendigkeit überzeugt, „Angra 2“ fertigzustellen. Hartmut Graßl, Klimaforscher am Max-Planck-Institut in Hamburg und Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Schutz der Erdatmosphäre“, findet es generell unverständlich, warum Brasilien zur Energieerzeugung Atomkraftwerke braucht: „In kaum einem anderen Land der Welt“, so der Klimaforscher, „sind die Voraussetzungen für Wasserkraft so günstig.“ Die SPD- Bundestagsabgeordnete Monika Ganseforth, ebenfalls Mitglied der Enquete-Kommission, verzichtete aus Protest gegen „die mittelverschlingende Dinosauriertechnologie der Atomkraft“ ganz auf den Besuch der AKW-Anlage.

Von dem gigantischen Projekt deutsch-brasilianischer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Atomenergie ist nur das Atomkraftwerk „Angra 2“ übriggeblieben. „Angra3“ wurde vom brasilianischen Präsidenten Fernando Collor de Mello auf Eis gelegt. Die Regierung spielt nun mit dem Gedanken, die bereits angeschafften technischen Geräte im Wert von 150 Millionen Dollar an den interessierten Iran weiterzuverkaufen.

„Das deutsch-brasilianische Abkommen zur friedlichen Nutzung der Atomenergie ist 1990 gegen unseren heftigen Widerstand für weitere fünf Jahre verlängert worden. Wir werden alles daransetzen, daß es 1995 nicht noch einmal verlängert wird“, erklärte Monika Ganseforth in Rio. Als „sinnvolle Alternative“ zur bisherigen technischen Kooperation schlägt die Abgeordnete den Bau von Solarkraftwerken im Sonnengürtel der Erde vor. Auch in Brasilien mehren sich Zeichen der Opposition. Die Mehrheit der 120.000 Einwohner der Stadt Angra dos Reis fühlt sich von dem bereits funktionierenden Atomkraftwerk „Angra 1“, im Jahre 1972 von der US-amerikanischen Firma „Westinghouse“ an Brasilien verkauft, bedroht. „Angra 1“ wird ironisch als „Glühwürmchen“ bezeichnet, weil es wegen seiner häufigen technischen Defekte mehrfach stillgelegt werden mußte. Die Firma „Westinghouse“ muß sich zur Zeit vor dem Internationalen Gerichtshof in Paris wegen der Lieferung von zwei defekten Dampfturbinen im Wert von 140 Millionen Dollar verantworten. Das einzige Atomkraftwerk Brasiliens nutzt, selbst wenn es läuft, nur die Hälfte seiner Kapazität von 657 Megawatt aus. Der Grund: die Stromstation, die das benachbarte Rio de Janeiro mit Energie versorgt, kann nicht mehr aufnehmen.

„Es fragt sich, ob das Atomkraftwerk überhaupt zur Stromerzeugung nötig ist“, meint der Bürgermeister von Angra dos Reis, Neirobis Kazuo Nagae. Zusammen mit den Abgeordneten der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), Carlos Minc, und dem Abgeordneten der brasilianischen Grünen (PV), Fernando Gabeira, war es dem Brasilianer japanischer Herkunft im Oktober 1989 gelungen, „Angra 1“ für einen Monat lang stillzulegen. Ausschlaggebend für das Gerichtsurteil war das Fehlen eines Evakuierungsplans für die Bevölkerung. Doch die letzten statistischen Erhebungen über die Einwohnerzahl stammen noch aus dem Jahre 1986. Schlimmer noch: keiner der 8.000 unmittelbaren Anwohner der AKW- Anlage verfügt über ein Telefon.

Der zweite Einwand des Bürgermeisters gilt der Entsorgung des radioaktiven Atommülls. Der radioaktive Müll von Angra 1 und 2 soll nämlich in den kommenden 40 Jahren provisorisch innerhalb der AKW- Anlage gelagert werden. „Was dann passiert“, so Atomgegner Moacir Figueiredo, „ist nicht mehr die Aufgabe meiner Generation. Vielleicht ist dann die Atomenergie schon von einer wirtschaftlicheren Form der Stromerzeugung abgelöst worden.“