„Der Krieg heißt für mich Gefangenschaft“

■ Eine Armenierin in Baku erzählt, wie sich ihr Leben mit Beginn des Krieges veränderte/ Aufgezeichnet von Ömer Erzeren

„Du machst mir Komplimente. Du sagst, daß ich schöne lange schwarze Haare habe. Doch ich bin eine alte Frau. Schau her. Siehst du die Falten in meinem Gesicht? Ich bin 46 Jahre alt, ich habe zwei Söhne großgezogen. Schau dir den Jüngeren an. Er ist jetzt 17 Jahre alt. Was soll nur aus dem Jungen werden? Den ganzen Tag spielt er diese Atari-Computerspiele, statt für die Schule zu lernen.

Doch erinnere mich nicht an die Schule. Gott verhüte, daß meinem Sohn Leid zugefügt wird. ,In Karabach hätten wir für dich eine Kugel übrig‘, hat ein Mitschüler ihn angegiftet. ,Die Mutter ist Armenierin‘, flüstern sie im Pausenhof. Mein Sohn, mein armer Sohn. Vor ein paar Tagen hat er geweint. ,Wer Mischblut in seinen Adern hat, ist kein Aserbaidschaner‘, hat der Lehrer im Unterricht gesagt. Ja, ich bin Armenierin. Ja, ich bin verheiratet mit einem Aserbaidschaner. Und Baku ist meine Heimat. Verflucht sei die Welt. Ich liebe meinen Mann. Der beste Mann auf Erden. Das Böse draußen erzählt er mir nicht. Doch ich weiß alles. Einer im Zugabteil hat jüngst vor meinem Mann geprahlt: ,Ich habe vergessen, abgeschnittene Armenierohren mitzubringen.‘

Gutes altes Baku, es gibt dich nicht mehr. Die goldenen sechziger Jahre, damals unter Chruschtschow. Die Schul- und Studentenzeit. Ich auf dem Konservatorium, mein Mann auf der Kunstakademie.

,Verwelkte Armenier- Hure‘ wurde sie genannt

Damals hatten die Bauern die Stadt noch nicht belagert. Jeder kannte jeden. Abends promenierten wir auf den Boulevards. Glaube mir, du hast so viele Leute gegrüßt, daß dir vom Grüßen hinterher der Kopf wehtat. In den Straßen konntest du alle Sprachen dieser Welt hören. Damals gab es keine Kriminalität. Die Theater, die Kinos und die Teegärten gehörten uns. Die Gerüchteküche kochte. Welches Mädchen geht mit welchem Jungen aus? Viele Männer waren hinter mir her, Armenier, Russen, Aserbaidschaner. Doch nur ihn habe ich geliebt.

Mit 17 haben wir uns kennengelernt, mit 23 haben wir geheiratet. Vor der Heirat ist er für ein Jahr nach Moskau gegangen. Ich weiß, daß er dort im Künstlersumpf alles Mögliche getrieben hat. Andere Mädchen, Alkohol. Doch ich verzeihe es ihm. Nie hat er sich beklagt, daß seine Schwiegermutter bei uns lebt. Meine arme Mutter. Sie ist jetzt siebzig Jahre alt, doch körperlich stark und bei vollem Bewußtsein. Dennoch ist das Haus für sie ein Gefängnis. Nie geht sie alleine aus, seit der Obsthändler, wo sie Kirschen einkaufen wollte, sie ,verwelkte Armenier- Hure‘ nannte.

Ich verstehe die Menschen nicht. Als ich zur Schule ging, spielte die Nationalität keine Rolle. In der Grundschule waren wir alle beisammen — Aserbaidschaner, Russen, Armenier, Georgier und Ukrainer. Meine beste Freundin war Jüdin. Natürlich hatte ich von alten Armeniern gehört, wie schlecht das aserbaidschanische Volk sei. Doch ich habe es nie verstanden. Aserbaidschaner und Armenier lebten in Baku friedlich zusammen. Ich weiß, daß viele Familien gegen Mischehen waren. Doch bei uns in der Familie hat niemand etwas dagegengehabt, daß ich einen Aserbaidschaner heirate. Es war eine glänzende Hochzeit. Bis in die frühen Morgenstunden wurde getanzt und gesungen: aserbaidschanische Lieder, armenische Lieder, russische Lieder. In Baku gibt es Tausende von Mischehen.

Ich bin in Baku geboren. Doch meine Familie ist eigentlich aus Berg-Karabach. Die Urgroßeltern meines Mannes sind auch aus Berg- Karabach. Die Flitterwochen haben wir in Berg-Karabach bei meiner Tante verbracht. Es ist ein kleines, armenisches Dorf mit ein paar Dutzend Höfen. Dort gibt es nicht die unerträgliche Hitze wie in Baku. Dort gibt es nicht die widerwärtigen Moskitos. Dort atmest du frische Luft. Überall im Dorf waren Maulbeer-, Apfel- und Birnenbäume. Es ist paradiesisch. ,Ich brauche keinen Strom‘, sagte meine Tante. Sie hatte ein Dutzend Schafe.

Mein Mann sagt, daß der beste Schnaps der Maulbeer-Arak aus dem Dorf ist. Jeden Abend wurde im Garten getrunken. Mein Mann hatte nie Verständigungsschwierigkeiten. Alle im Dorf haben Aserbaidschanisch gesprochen. Du mußt wissen, daß wir Karabach-Armenier ein ganz anderes Armenisch sprechen als die Armenier in Eriwan. Verrücktheit der Welt. Wußtest du, daß viele der vertriebenen Aserbaidschaner aus Eriwan besser Armenisch sprechen als Aserbaidschanisch? Das Dorf in Karabach war unsere gemeinsame Leidenschaft. Es waren nicht nur die Flitterwochen. Jedes Jahr sind wir im Sommer in das Dorf gefahren, um unseren Urlaub zu verbringen. Jeden Sommer bis 1988. 1988 war der Anfang vom Ende. Du weißt, als die vertriebenen Aserbaidschaner aus Armenien in Baku einströmten.

Mein Mann sagt: ,Der KGB steckt dahinter‘

Ich weiß nicht, wie es dazu kam. Für Politik habe ich mich nie interessiert. Wie ein Vulkan brachen die Januartage 1990 aus. Ich hörte von der Wohnung aus das Rattern der Maschinengewehre. Armenische Wohnungen wurden geplündert, Frauen vergewaltigt, Kirchen in Brand gesteckt. Wir hatten Glück, weil wir in einer anderen Wohnung gemeldet waren. Mein Mann sagt, daß der KGB dahintersteckt. Der Mob, der plündernd durch die Straßen zog, habe von den Karteikärten in den Krankenhäusern ausfindig gemacht, wo die Armenier wohnten. Mein Mann sagt, daß die aus Armenien vertriebenen Aserbaidschaner von Sinnen gewesen seien. Sie hätten mit Berichten über Massaker und Plünderungen in Eriwan das grauenhafte Treiben angeheizt. Drei Tage dauerte der Spuk. ,Du bleibst zu Hause‘, sagte mein Mann. Keiner unserer aserbaidschanischen Nachbarn hat Armenier verpfiffen. Ein Freund von uns hat sogar zwei armenische Familien während der Schreckensereignisse versteckt.

Der Krieg heißt für mich Gefangenschaft. Mein Mann und ich gehen kaum noch aus. Wir haben nur wenige gute, alte Freunde, die wir besuchen. Meine Arbeit als Musiklehrerin habe ich aufgegeben. Nur zu Hause spiele ich auf dem Klavier. Am liebsten Bach. Ich sehe nicht fern. Ich will nicht die Leichen aus Karabach sehen. Ich will nichts über die Massaker hören. Das Gerede über Nation ist mir zuwider. Ich hasse Baku. Weißt du, daß die Schwester meines Mannes mit einem Armenier verheiratet ist? Die beiden fehlen mir. Sie haben es in Baku nicht mehr ausgehalten. Vor einem Monat sind sie nach Moskau geflohen.

Der Nationalismus ist so lächerlich. Nach der Entbindung meiner Mutter im Krankenhaus in Baku hat man mich mit einem anderen Säugling verwechselt. Eine aserbaidschanische Frau hat mich für ihr Kind gehalten und gestillt. Nach zehn Monaten flog die Verwechslung auf, und meine leibliche Mutter nahm sich meiner an. Wäre die Verwechslung nie aufgeflogen, wäre ich heute Aserbaidschanerin. Die Verwechslung im Krankenhaus ist ein Zeichen Gottes. Nicht das Blut zählt, sondern der Menschencharakter.“