Münchens blinder Polizeipräsident

Haftrichter läßt alle 491 Festgenommenen frei/ Urteil: Polizeiaktion sei „nicht nachvollziehbar“/ Polizeipräsident „sah Nötigung“/ Polizei hält Meinungs- und Pressefreiheit für nicht beeinträchtigt  ■ Aus München Henrike Thomsen

Polizeipräsident Koller wandt sich. Rund 100 Journalisten hatten sich am Dienstag vormittag im kleinen Presseraum des Münchner Polizeipräsidiums versammelt, um die Begründung für den massiven Polizeieinsatz gegen Demonstranten (taz berichtete) vom Vortag zu hören. Diese fiel wie zu erwarten mager aus: Die Demonstranten hätten am Montag vormittag versucht, die offizielle Eröffnung des Weltwirtschaftsgipfels auf dem Max-Joseph-Platz vor der Residenz zu stören. Ihre Pfiffe und Sprechchöre, die die Blaskapelle zu Ehren des Bundeskanzlers übertönten, hätten gedroht, die Veranstaltung zu kippen. Grund genug für die Polizei, die Demonstranten in Richtung Marienplatz abzudrängen und jede einzelne TeilnehmerIn festzunehmen. „Ich sah den Anfang eines Straftatbestandes, nämlich Nötigung, gegeben“, so Koller.

Der Haftrichter sah das anders. Er lehnte Montag abend den Antrag des Polizeipräsidiums ab, fünf der festgenommenen 491 Demonstranten bis Donnerstag in Unterbindungsgewahrsam festzuhalten. „Lärm ist keine Gewalt im Sinn des Paragraphen 240 StGB. Die Festgenommenen sind unverzüglich freizulassen“, lautete das Urteil. Paragraph 240 StGB formuliert den Straftatbestand Nötigung. Dieser Beschluß ist eine schallende Ohrfeige für die Polizei. Zuvor hatten sich bereits die gesamte Münchner Presse und Münchens Zweiter Bürgermeister Christian Ude (SPD) gegen das Verhalten der Sicherheitskräfte ausgesprochen. Ude will Anzeige gegen einen Polizisten erstatten, den er beobachtet habe, einem wehrlos am Boden liegenden Demonstranten ins Kreuz gesprungen zu sein. Auch die bayerische SPD-Vorsitzende Renate Schmidt wandte sich gegen das „krasse Fehlverhalten der Einsatzleitung im Innenministerium“. Sie macht Innenminister Edmund Stoiber (CSU) für das Vorgehen der Polizei verantwortlich.

Als braver Beamter hielt der Polizeipräsident gestern den Kopf hin, obwohl die Verantwortung für die harte Linie tatsächlich letztendlich bei Stoiber liegt. Koller übernahm die gesamte Verantwortung für den Polizeieinsatz und erklärte: „Es gab keine politische Weisung von oben.“ Dagegen spricht, daß bereits in den vorherigen Tagen die dem Innenministerium unterstellte Elitetruppe USK (Unabhängiges Sonderkommando oder einfach Unterstützungskommando) bei Demonstrationen eigenmächtig agierte und nicht den Befehlen der Münchner Einsatzleiter gehorchte. Dagegen spricht auch, daß Stoiber schon Monate vor dem G-7-Treffen versicherte, er werde den Protest der Gipfelgegner mit allen Mitteln bekämpfen.

Koller sah das Recht auf freie Meinungsäußerung durch das Verhalten der Polizei nicht angegriffen. Auch die Pressefreiheit sah er in keiner Weise beeinträchtigt, obwohl Kameramänner belästigt, Fotografen behindert und einem Rundfunkreporter das Aufnahmegerät zerschlagen wurden. „Die politisch Verantwortlichen schaffen einen Ausnahmezustand, in dem die Grundrechte der freien Meinungsäußerung mit Füßen getreten werden und das Demonstrationsrecht nur noch auf dem Papier existent ist“, heißt es dagegen in einer Presseerklärung der Gipfelgegner. Die Bilanz der Demonstranten: die Polizei habe sie brutal behandelt, stundenlang im Kessel und in Polizeiwagen festgehalten, ohne Hilfe oder die nötigste Versorgung zu leisten. „Einem Palästinenser haben sie den Arm ausgekugelt“, so Michael Backmund vom Münchner Bündnis gegen den Weltwirtschaftsgipfel. „Er lag zwei Stunden schreiend auf dem Flur und durfte nicht in die Klinik.“ Auch Jutta Ditfurth von der Öko-Linken wurde der Arm so schmerzhaft verdreht, daß sie ins Krankenhaus mußte.

Die Gipfelgegner fordern den Rücktritt von Koller und Stoiber. Jeder der 491 festgenommenen Demonstranten will Anzeige wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung stellen.

Am Dienstag vormittag demonstrierten rund 1.200 Gipfelgegner, ohne daß die Polizei eingriff. Auch für den späten Nachmittag waren Kundgebungen angesagt.