„Eine feindliche Übernahme“

Drei Westbeamte versuchen sich als Bürgermeister der Ostseeinsel Usedom/ Was sie als berufliches Abenteuer verstehen, stößt bei Einheimischen auf Unmut: die Neuen empfindet man als zwielichtige Karrieristen  ■ VON MICHAELA SCHIESSL

Das soll er sein, der dynamische Jung-Spekulant? So also sieht der große Absahner aus? Einen unangenehmen Großkotz hätte man erwartet, gerissen, aalglatt und mit vollmundigen Sprüchen. Doch der Mann, der da so schmalbrüstig in seiner Amtsstube hockt, ist still und zurückhaltend. Seine Antworten sind verständlich und präzise. Wie er so seine Brille zurechtrückt, wirkt er wie die Stilisierung eines Buchhalters — die fleischgewordene Korrektheit. „Ich glaube nicht, daß mir die Leute mißtrauen“, sagt Jürgen Merkle. Doch der Satz müßte anders lauten: „Ich will nicht, daß mir die Leute mißtrauen.“

Aber genau das tun die Bürger von Heringsdorf, einem der drei einst hochherrschaftlichen Seebäder auf der Ostseeinsel Usedom. Sie mißtrauen ihrem Bürgermeister, weil er keiner von ihnen ist, keiner von ihnen werden kann und sie nichts von dem nachvollziehen können, was er tut. Für sie ist er ein skrupelloser Karrierist, der ohne Rücksicht auf die Einheimischen ihr wertvolles Dorf meistbietend verscherbelt.

Der Bürgermeister ist keiner von ihnen

Denn Merkle stammt von drüben. Er kam als einer der insgesamt 35.000 Aufbauhelfer aus dem Westen, die den neuen Bundesländern die geheimen Segnungen des demokratischen Verwaltungsapparates nahebringen sollen. 33 Jahre jung ist der fremde Bürokrat. Verdammt jung für einen Bürgermeister, mosern die Heringsdorfer, wenn sie sich beim Einkauf auf dem Marktplatz treffen. Und alle nicken, als die Frau am Gemüsestand mit Verschwörerstimme sagt: „Laßt es uns machen wie die in Bansin.“

Merkle war Liegenschaftsbeamter in der Stadtverwaltung von Bad Nauheim, als er plötzlich die Anziehungskraft des Ostens verspürte, die in der Tat eine rasante Karriere versprach: Der kleine Beamte als Chef in einem Ort, gegen den Timmendorf in ein paar Jahren wie eine Arme- Leute-Siedlung wirken wird. Zwar ist von dem einstigen Glanz der Villen und Grand-Hotels nach vierzig Jahren FDGB-Tourismus nur noch ein maroder Charme geblieben. Der Putz blättert von den zu Ferienheimen umgebauten Nobelherbergen, die Gemäuer der Datschen kämpfen vergebens mit dem Schwamm. Doch viel Phantasie braucht es nicht, um sich die drei Orte als Mekka der Neureichen-Schickeria Berlins vorzustellen, die schon jetzt mit habgierigen Blicken jedes Wochenende die kilometerlange Strandpromenade längsflanieren.

Kein Zweifel: Heringsdorf ist, wie die angrenzenden Bäder Aahlbeck und Bansin, eine besonders wertvolle Perle in der Juwelenkette, die sich an der neudeutschen Ostseeküste aufreiht.Die Perlen müssen nur poliert werden. Und Merkle greift zum Lappen. Statt darauf zu warten, daß die Treuhand sich um den Verbleib der umworbenen Projekte kümmert, klärt er in Eigenregie die Eigentumsverhältnisse. Er sondiert seriöse, finanzstarke Investoren, die zusätzlich zu den rasant gestiegenen Immobilienpreisen die notwendigen Sanierungen tragen können, und serviert sie der Treuhand auf dem Tablett. „Bis zum Sommer werden alle Projekte bewirtschaftet sein“, kündigt er an. Schnell muß es gehen, damit der Tourismus wieder in Gang kommt.

Denn der Tourismus bringt Geld, und vor allem Arbeitsplätze — 18,6 Prozent der Menschen im Kreis Wolgast sind arbeitslos. Den Aktivitäten ihres Meisters können die meisten Heringsdorfer nichts Positives abgewinnen. Alles, was sie sehen: Wir kriegen nichts ab vom Kuchen. SPD- Parteimitglied Merkle verteidigt seine Handlungsweise: „Hier regiert ganz brutal der Markt. Jeder kann kaufen. Aber kein Projekt ist unter einer Million zu haben. Für Existenzgründer ohne Eigenkapital schwer zu bewältigen.“

„Lieber heute als morgen wären wir den los

Sein Volk tut sich schwer mit den Argumenten des Kapitalismus. Der Unmut läßt die Gerüchteküche kochen, nicht zuletzt, weil der erste Mann im Dorf den Kontakt zu seinen Bürgern meidet. „Ein Makler ist er, der Merkle“, behauptet Robert S., und kramt wütend in den Regalen seines kleinen Lebensmittelgeschäfts. Beweisen kann er nichts, aber er ist sich sicher: „Bestimmt bekommt der Provision von den Käufern.“ Die anwesende Kundschaft bestätigt: „Lieber heute als morgen wären wir den los.“

Doch die, die in die Bücher schauen dürfen, halten zu Merkle: die Mitglieder vom Hauptausschuß. Dort, im höchsten Gremium der Gemeinde, sitzen die vom Volk gewählten Delegierten, die den Bürgermeister berufen — und abberufen. Sie haben seinerzeit den jungen Wessi genommen, weil er die neuen Gesetze kennt, die neuen Spielregeln beherrscht. Und sie halten weiter zu ihrem Kandidaten. Jede Entscheidung über 5.000 Mark trägt Merkle in den Ausschuß — eine vertrauensbildende Maßnahme, zu der er nicht verpflichtet ist. In stundenlangen Diskussionen überzeugt er die Mitglieder von seinen Vorhaben, macht ihnen klar: Wir müssen jetzt Land kaufen, bevor der Baugrund unerschwinglich wird.

Soviel Transparenz schafft er zu den Bürgern nicht. Zwar ruft er zur öffentlichen Sitzung, aber keiner kommt. Seine Vorschläge hängt er ans Schwarze Brett, doch niemand reagiert. Die Heringsdorfer boykottieren den neuen Chef. „Dem glauben wir nichts, der steckt doch ohnehin mit dem Mohr unter einer Decke“, sagt Frau K., die gerade hinter der Garage zwei Fremdenzimmer angebaut hat für die Touristen. Ihren Namen will sie nicht nennen, obwohl auch sie, natürlich, „ganz, ganz sicher“ sei. Auch Frau K. favorisiert die „Bansiner Lösung“.

„Der Mohr“ heißt mit Vornamen Hans-Joachim und ist ein ähnlicher Fall wie Merkle: 34 Jahre jung, ehemals Stadtkämmerer in Wieck auf Föhr, ein Wessi auch er. Mohr und Merkle mögen sich nicht nur, sie verstehen sich. Kein Wunder, denn beide jonglieren ganz selbstverständlich mit ihrem vertrauten Know-how: Flächennutzungsplan, Abgabenverordnung, Steuervergünstigungsmodelle, öffentliche Förderpläne — allesamt Böhmische Dörfer für die neuen Bundesbürger. Ihnen erscheinen die neuen Meister wie windige Zauberer, die das Pikas triumphierend mal hier aus dem Ärmel, mal dort aus dem Hut hervorziehen. So sehr man auch aufpaßt, man kommt einfach nicht hinter den undurchsichtigen Trick.

Viele Aktionen von Merkle und Mohr stoßen auf Mißtrauen: Sie gründeten eine Wohnungsgesellschaft (Geschäftsführer: Merkle), um auf dem Kapitalmarkt besser agieren zu können und ihren Gemeinden günstiges Bauland zu sichern. Sie bildeten einen gemeinsamen Zweckverband Kur (Vorsitzender: Mohr) — und stellten eine erfahrene Kurdirektorin aus dem Westen ein. Geht es nach Merkle und Mohr, so sollen perspektivisch alle drei Dörfer zu einer Kur- und Stadtverwaltung zusammengelegt werden. „Jetzt kriegen sie das noch nicht in die Köpfe rein. Doch mit der wirtschaftlichen Notwendigkeit wird ein Lernprozeß einsetzen. In acht bis zehn Jahren gibt's hier nur noch einen Bürgermeister.“

Fünf Kilometer weiter wirft Lutz Piehler seinen mächtigen Körper über den Original-DDR-Amtstisch und lacht schallend: „Das hätte er gern, der Mohr: Meister aller Reusen sein.“ Dr. Lutz Piehler ist Tierarzt, und dort, wo einst Erich Honecker von der Wand blickte, glotzt heute ein Gorilla aus dem Bilderrahmen. Seit 24 Jahren lebt der 52jährige Piehler in Bansin. Neuerdings als Bürgermeister des ehemaligen Nobelbades, wo in den zwanziger Jahren Lilian Harvey und Willy Fritsch die Jetons über den Roulettetisch des Casinos schoben, während sich Thomas Mann am Strand inspirieren ließ.

Piehlers Vorgänger, einen Wessi, haben die Bansiner fortgejagt — eine Aktion, ganz nach dem Geschmack der unzufriedenen Heringsdorfer und Aahlbecker. Hartmut Foges hieß der Mann, 48 Jahre alt, Ex-Standesbeamter auf Helgoland, und in Bürgermeisterbelangen offenbar völlig unbeleckt. Er wurde vom Hauptausschuß gefeuert, nachdem er weder eine Verwaltung aufbaute noch Investoren ranschaffte und sich zu allem Überfluß mit keinem einzigen Ratsmitglied besprach. Nach zwei Jahren schob der gescheiterte Möchtegern- Dorfchef ab — mit einer beträchtlichen Abfindung in der Tasche.

Nach dieser einschlägigen Wessi- Erfahrung favorisierten die Bansiner ein neues Konzept: Ein Bürgermeister aus dem Dorf, der sich eine fachkundige Westcrew zusammenstellt. Das Modell funktioniert. Piehler holte sich mit Oliver Neugebauer einen kompetenten Amtsleiter, „der jung genug ist, um noch nicht allzuviel Wessi-Denkstrukturen verinnerlicht“ zu haben. Auch sein Städteplaner Carstensen aus Husum ist auf Osten geeicht: Er lebt mit einer Architektin aus Aahlbeck zusammen. „Der denkt schon ein bißchen in unseren Strukturen, hält uns nicht für Idioten.“ Und er kann zudem mit den Investoren umgehen.

Eine Westparanoia habe er nicht, sagt der Piehler. „Aber ich brauche Leute, die unsere Sprache sprechen.“ Der hemdsärmlige Tierarzt ist das genaue Gegenteil von einem „Überzeugungstäter im öffentlichen Dienst“, wie sich Merkle bezeichnet. Die Verwaltungsexperten Merkle und Mohr lockte die spannende Aufgabe und der lukrative Standort ins östliche Abenteuer, so wie es einen Wissenschaftler reizt, die Chaostheorie zu berechnen. Für Piehler ist das Chaos real. Die Probleme sind seine eigenen, und er versucht den Spagat: Ein „sensibles Mosaik zwischen einheimischen und auswärtigen Investoren“ will er zusammenpuzzeln.

Auch er stößt mit seinen Plänen nicht nur auf Gegenliebe. Zwischen seinen Vorstellungen von Sanierung und denen seiner Bürger liegen Welten. „Viele denken, Freiheit heißt, daß jeder machen kann, was er will. Die glauben, es reicht, so ein Haus weiß anzupinseln.“ Daß die Touristen aus dem Westen mehr Luxus verlangen als ein Etagenklo mit Geimeinschaftsdusche, ist noch nicht in den Köpfen drin. „Hier herrscht eine Pommes-Mentalität“, schildert Piehler die Vorlieben seiner Schäfchen, „am liebsten würde hier jeder einen Imbiß aufmachen und fertig.“

Wie seine Kollegen bemüht auch er sich um finanzstarke Investoren und ärgert sich mit der tatenlosen Treuhand herum. Doch im Gegensatz zu Merkle und Mohr hat er das Ohr an den Bedürfnissen seiner Bürger. „Ich kenn' mich mit den Leuten aus, und die kennen mich. Da kommt jeder her, der was zu mosern hat, und dann wird palavert.“ Allen recht machen kann es auch Piehler nicht, aber seine „offene Verwaltung“ vermindert die Lebensdauer übler Gerüchte. Die Zusammenarbeit mit den Westkollegen? „Läuft recht steifbeinig an“, sagt Piehler. „Der Heringsdorfer ist ein schlitzohriger Technokrat, da blickt keiner recht durch, was der macht.“ Daß Mohr und Merkle sich persönlich bereichern, hält er jedoch für böses Geschwätz. „Na klar nutzen die beiden die Chance der steilen Karriere. Das waren früher ganz kleine Hanseln, die noch zwanzig Jahre auf so einen Job gewartet hätten.“ Doch ein Restmißtrauen bleibt. Piehler will erst genau hinsehen, bevor er mit den „dynamischen Wessis“ an einem Strang zerrt. Seine Devise: Bloß nichts überstülpen lassen, zusammenarbeiten, aber eigenständig bleiben. „Natürlich sind wir voneinander abhängig. Wir scheißen in einen Topf, haben eine gemeinsame Kläranlage, hängen verkehrstechnisch zusammen.“

„Wir scheißen alle in den gleichen Topf“

Grundsätzlich jedoch sieht er die Entwicklungsmöglichkeiten der Bäder zunächst in deren Gegensätzlichkeit: „Jeder Ort soll wieder sein eigenes Profil entwickeln, andere Zielgruppen ansprechen.“ Um seine Pläne in die Köpfe der Bansiner zu bringen, braucht Piehler kein Schwarzes Brett — er spricht mit den Betroffenen, oft nächtelang, in seiner Sprache, die die ihre ist. Ein Weg, der dem fremden Merkle fremd ist und unangenehm: „Wenn dazugehören heißt, jeden Abend mit am Stammtisch zu sitzen, dann gehöre ich nicht dazu. Ich habe abends Sitzungen.“ Trost für die Ablehnung seiner Person sucht Merkle in der Abstraktion: „Die Leute wollen schlecht denken, weil es ihnen objektiv schlecht geht.“ Globale Erklärungsmuster liegen ihm mehr, als den Arm tröstend um die Schultern seiner Bürger zu legen: „Der Osten ist der Verlierer der Einheit. Natürlich ist dies hier eine Übernahme, eine feindliche.“

Intellektuell, so hat man den Eindruck, versteht der hölzerne Mensch die Existenzängste der Heringsdorfer. Doch ihre tatsächliche „Befindlichkeit“ (Merkle) bleibt ihm fremd. Denn für ihn, den Macher im großen Planspiel Usedom, zählt nur eins: „Solange ich morgens in den Spiegel schauen kann, ohne mich zu schämen, reicht mir das.“

Den Menschen auf Usedom reicht es nicht.