Ausbrechen aus der Einbahnstraße

■ Auf dem „Anderen Weltwirtschaftsgipfel“ TOES kritisierten ReferentInnen aus Osteuropa das widerstandslose Hinnehmen westlicher Bevormundung in ihren Ländern

„Wer in Osteuropa laut über Alternativen zur aktuellen Politik nachdenkt, wird bei uns als geisteskrank angesehen.“ So lautete die Diagnose von Piotr Ikonowicz, führendes Mitglied der polnischen Solidarność, während der gestrigen Osteuropa- Runde des Alternativgipfels TOES, die sich bemühte, aus der Einbahnstraße des herrschenden Denkens auszubrechen.

„Die Reformprogramme in Polen und in Osteuropa unterscheiden sich im Grunde nicht von den Strukturprogrammen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) der Dritten Welt verordnet hat. Während jedoch die Regierungen Osteuropas widerstandslos hinnehmen, was der IWF befiehlt, tun sich die Länder der Dritten Welt zusammen und wehren sich, um bessere Konditionen zu erkämpfen.“

Auch Tamas Fleischer vom Budapester Institute of World Economics sah in dem mangelnden Zusammenhalt der ehemaligen Ostblockstaaten ein Hindernis, mit den wirtschaftlichen Herausforderungen fertigzuwerden. „Die Fäden, die früher Moskau zog, zieht heute Brüssel“, sagte Fleischer. „Unterdessen wird der Ausbau einer gemeinsamen osteuropäischen Infrastruktur, die tatsächlich eine veränderte Wirtschaftsweise ermöglichen könnte, vernachlässigt.“ Bevor die östlichen Regierungen blind nach günstigen Krediten schnappten, müßten sie sich fragen, ob die damit verbundenen Industrien überhaupt sinnvoll für ihr Land seien und ob für die Produkte ein Markt bestände. Konkrete wirtschaftliche Forderungen der TOES-Referenten an die G-7- Runde: Investitionen statt Kredite, Gelder für den Ausbau alternativer Energien statt Aufrüstung der veralteten Reaktoren, Assoziation der osteuropäischen Länder an die EG, Schaffung einer größeren europäischen Zahlungsunion, die auch nicht konvertible Währungen berücksichtigt.

„Die Kreditpolitik des Westens dient nur dazu, die Abhängigkeit der Länder Osteuropas zu erhalten“, so Fleischer. Am Vortag hatte unter anderen TOES-Initiator Jacob von Uexküll den G-7-Vertretern vorgeworfen, ihre Haltung erinnere an die starre Haltung der untergegangenen Sowjetunion. Die Erklärungen von Rio und München gemahnten an die immer unglaubwürdigeren Reformversuche der Perestroika und an die politische Lähmung im Kreml angesichts der Herausforderungen der Zukunft.

Ein ganz anderes Licht auf die Entwicklungen in Osteuropa warf Tatjana Klimenkova von der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Statt sich an der politisch aufgeheizten Auseinandersetzung um Sozialismus und Kapitalismus zu orientieren, plädierte sie dafür, von einer Opposition zwischen Moderne und Postmoderne zu sprechen: Das Denken in Osteuropa sei bis 1989 in den großen Zukunftsprojektionen verhaftet gewesen, die der Moderne eigen seien.

Der Sprung in die im Westen vorherrschende postmoderne Auffassung, die an eine berechenbare und gestaltbare Zukunft nicht mehr glaube, habe in der osteuropäischen Gesellschaft eine tiefe Krise ausgelöst. „Der Westen wird uns als weise und stark, also als männlich dargestellt“, so Klimenkova, „der Osten dagegen als schwach und naiv — nach herkömmlicher Vorstellung also als weiblich. Auf dieser Grundlage werden alle politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen getroffen. Haben wir den langen Weg unserer geistigen Emanzipation zurückgelegt, um uns auf diese Normen reduzieren zu lassen?“ Henrike Thomsen, München