Documenta 9 — Spot 1

■ Wim Delvoyes „Mosaik“ — Kunst-voller Haufen

Spot ist eine taz-Serie zu einzelnen Arbeiten oder Künstler(inne)n auf der Documenta 9 in Kassel. Bis zum 20.September

Vier Monate ißt er in allen Restaurants in Gent. Vier Monate ißt er abwechselnd chinesisch, italienisch, belgisch, französisch, thailändisch. Um zu sehen, wie sein Körper die aufgenommene Nahrung umsetzt — in Farbe und Form. Dann endlich hat er ihn: den einzig besten, schönsten, absolut gelungenen Haufen, den er zu roduzieren imstande war.

Die asiatische Küche mit ihren exotischen Kräutern und bunten Gewürzen zauberte das mühsam abgerungene (Kunst-)Produkt hervor, das nun in der neuen Documenta-Halle von jedermann und -frau zu bestaunen ist.

Doch, halt!

Was hier vorweggenommen wurde, offenbart sich in Kassel erst auf den zweiten Blick. Der belgische Künstler Wim Delvoye zielt mit seiner Installation nicht auf den Ekel des Betrachters, sondern sucht mit subtileren Mitteln Hygiene-Normen zu irritieren.

Denn: Jener Kringel wurde im Verhältnis 1:1 fotografiert, auf eine quadratische, weiß-glänzende Küchenfliese reproduziert und zudem schattiert, um die dreidimensionale Wirkung des rotbraunen, dekorativ gebogenen Objekts der Betrachtung zu steigern. Vierhundert Fliesen — von denen circa die Hälfte unbedruckt blieb — ließ Delvoye in den frisch betonierten Boden der Halle als quadratisches Mosaik einlegen.

„Assoziationen an orientalische und barocke Bodenarbeiten möchte ich wecken“, sagt Wim Delvoye, der im Chaos seines Ateliers zwischen Aquarien, Haustieren und Entwürfen an die zwanzig Varianten eines streng geometrischen Musters ausarbeitete. Für die Kasseler Version entschied er sich gemeinsam mit dem Documenta-Leiter Jan Hoet, der bereits 1988 den damals 22jährigen Delvoye in sein Musum für Zeitgenössische Kunst in Gent zu einer Gruppenausstellung einlud. Unmittelbare Inspirationsquelle ist Wim Delvoye das flämische Kunsthandwerk Gents: „Die von mir verwendeten Materialien sind der Alltagswelt entnommen, aber dennoch keine Ready-mades, da ich sie immer weiter gestalte oder miteinander kombiniere“, betont Delvoye und verweist auf ein Fußballtor, dessen rot-weißer Rahmen kein Netz hält, sondern farbige Butzenscheiben, die in Handarbeit in Belgien angefertigt wurden. Damit sorgte er 1990 auf der Biennale in Venedig für Aufsehen. Geschnitzte Betonmischer, mit Windmühlen bemalte Sägeblätter, Bauarbeiter-Schaufeln als Wappenträger.

Nie aber sind die Arbeiten für bestimmte Räumlichkeiten konzipiert. Das erweist sich als problematisch. Die kühle Architektur der neuen Halle scheint das Mosaik so reibungslos zu integrieren, daß die erwünschte Irritation ausbleibt. Einzig die Documenta- Leitung ist verwirrt: sie baute in den ersten Tagen eine Absperrung um die Arbeit immer wieder auf und ab. Und der Besucher fragt sich: Darf, soll, muß man das so realistisch anmutende Innigst-Ausgeschiedene betreten? „Barfuß, nur barfuß, bitte!“ sagt Wim Delvoye. Grit Lederer