Der Süßwasserfisch

Heute vor 50 Jahren starb der Wiener Schriftsteller Franz Blei. Sein Werk, ein stilistisches Potpourri, von berühmten Zeitgenossen vielbeachtet und umstritten, ist heute fast vergessen  ■ Von Bernd-Erich Wöhrle

Schon die Zeitgenossen taten sich schwer,ihn einzuordnen: Für Kafka war er ein „orientalischer Märchenerzähler“; Karl Kraus hielt ihn für einen mit „Weihwedel und Puderquaste“ hantierenden Abbé des 18.Jahrhunderts; und Musil nannte ihn gar einen „erotischen Bazillus“. Der Autor, Herausgeber und Schauspieler Franz Blei (1871-1942) war in der Tat eine der schillerndsten Figuren der deutschsprachigen Literaturszene zwischen 1890 und 1930. Das Urteil der drei ist jedoch alles andere als zufällig: Kafkas Vermutung paßt zu dem Fabulierer Blei, der anonym und pseudonym publizierte, der sich gerne undurchsichtig gab und dem es gefiel, sich als „windigen Literaten“ auszugeben, der aus dubiosen Quellen schöpft. Karl Kraus' Bezeichnung weist auf die Liebe Bleis zur französischen Literatur des 18.Jahrhunderts hin. Er promovierte über die „Die Dialoge des Abbé Galiani“ und stimmte dem französischen Staatsmann Talleyrand, über den er eine Biographie schrieb, darin zu, daß nur derjenige wisse, was „le plaisier de vivre“ sei, der vor 1789 gelebt habe. Musils Einschätzung gilt dagegen dem Übersetzer und Herausgeber Blei, der galante Erzählungen des französischen Rokoko übertrug und dem als Herausgeber eines Bändchens erotischer Gedichte aus dem deutschen Barock ein Pornographieprozeß angehängt wurde.

Aber der Aktivitäten nicht genug: Zwischen 1905 und 1918 gab Blei eine Reihe von meist kurzlebigen Zeitschriften heraus, einige davon in wertvoller bibliophiler Aufmachung, wie 'Der Amethyst‘ oder 'Die Opale‘. Es ist aber nicht die bibliophile Aufmachung allein, mit der sich Blei als Herausgeber profiliert; in seinen Zeitschriften publizieren so „unbekannte Talente“ wie Franz Kafka, Robert Walser, Robert Musil und andere. Bleis literarischer Spürsinn zeigte sich auch darin, daß er längst vergessene Autoren wiederentdeckte, wie den Dramatiker Jakob Michael Reinhold Lenz, dessen Werke er in einer fünfbändigen Ausgabe (1910-13) herausbrachte.

Heute ist Blei fast vergessen: Aus der Produktion des Vielschreibers — Bleis Gesamtoeuvre umfaßt mehr als 80 Titel — sind zur Zeit nur zwei Einzelwerke im Buchhandel erhältlich: Das große Bestiarium der Literatur (1922), eine satirisch-allegorische Beschreibung der zeitgenössischen literarischen Fauna und Flora, in der „Das Kafka“ eine „mondblaue Maus“ ist, die sich von „bitteren Kräutern ernährt“ und „Die Hesse“ als „liebliche Waldtaube“ porträtiert wird; sowie die 1932 zuerst veröffentlichte Biographie Talleyrand oder der Zynismus. Darüber hinaus ist noch ein von Anne Gabrisch 1987 herausgegebener Auswahlband erhältlich: Franz Blei — Porträts.

Die fehlende Nachwirkung Bleis dürfte ihren Grund darin haben, daß der Schriftsteller Blei keinen wiedererkennbaren Stil, keinen durchgängigen Erzählton besitzt: weder den ironisch-epischen eines Thomas Mann, den essayistisch-analytischen eines Robert Musil noch den skeptisch-melancholischen eines Joseph Roth. Dazu kommt, daß Blei literarische Formen „minderer“ Güte bevorzugte, wie die Glosse, die Anekdote, die Groteske, den biographischen Essay, das Singspiel, die Posse und so weiter; und Blei es sich angelegen sein ließ, auch alle Register der literarischen Parodie von der Travestie bis zum Imitat zu ziehen. So enthält das Bestiarium einen Exkurs — eine andere Lieblingsform Bleis — zur politischen Romantik, der sich als wortgetreue Wiedergabe eines Kapitels aus der Politischen Romantik von Carl Schmitt herausstellt. Bleis Essay über den Poeten, Maler und Giftmörder Thomas Griffith Wainewright (1794-1852) hingegen ist eine parodierende Paraphrase von Oscar Wildes Lobeshymne auf Wainewright in Pen, Pencil and Poison. Das Oeuvre Bleis ist voll von literarischen Längs- und Querbezügen, die — mit oder ohne Autorennennung — in die eigene literarische Produktion mit eingearbeitet wurden.

Ein Autor, der sich, wenn auch in parodierender Absicht, so eng an die stilistischen und thematischen Vorgaben anderer Autoren hält, läuft Gefahr, sich selbst zu verlieren. Eine Gefahr, der Blei ironisch ins Auge sah: „Der Blei“, schreibt Blei im Bestiarium, „ist ein Süßwasserfisch, der sich geschmeidig in allen frischen Wassern tummelt und seinen Namen mhd. bli, ahd. blio=licht, klar von der außerordentlich glatten und dünnen Haut trägt, durch welche die jeweilige Nahrung mit ihrer Farbe deutlich sichtbar wird. Man kann so immer sehen, was der Blei gerade gegessen hat, und ist des Fraßes Farbe lebhaft, so wird der Blei ganz unsichtbar, und nur die Farbe bleibt zu sehen.“

Kritiker Bleis sahen das weniger ironisch. Sie zählten den „Süßwasserfisch Blei“ zur Gattung der Epigonen und Plagiatoren. Ein Vorwurf, der um die Jahrhundertwende noch schwer, heute jedoch leicht wiegt. Ist die Idee eines Autors, der einen originären Text schreibt, erst einmal abgeschafft, dann hat auch der Plagiatsvorwurf abgewirtschaftet. Gleich weit vom Ur- oder Endtext entfernt, sind alle Autoren in den Stand von Co-Autoren gerückt, die sich gegenseitig fortschreiben. Aus dem Plagiator wird dann — so schlägt es Raymond Federman in seiner Hamburger Poetikvorlesung vor — ein „Playgiator“. Läßt sich Blei damit als postmoderner Autor vereinnahmen?

Wohl doch nicht. Der „Playgiarismus“ Bleis ist von postmoderner Unbekümmertheit weit entfernt. Das Autonomwerden der Künste, die „anything goes“-Mentalität der Künstler, wie sie sich in der „l'art pour l'art“-Ästhetik der europäischen Fin-de-siècle-Literatur von Baudelaire bis Wilde ankündigt, wird von Blei als Verlust gedeutet. Er folgt damit ganz dem Urteil Nietzsches über die „literarische Décadence“: „Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite... Das Ganze ist kein Ganzes mehr.“ Kritisch wird es jedoch, wenn Blei Nietzsches Klage über den Verlust des „Ganzen“ zum Anlaß nimmt, gesellschaftspolitische Vorstellungen zu entwickeln, die das verlorengegangene „Ganze“ wieder herstellen sollen. Die in seinen kulturkritischen Schriften unterbreiteten Vorschläge reichen von einem aristokratisch geführten Ständestaat bis hin zu einer von bäuerlichen Tugenden geleiteten „Gemeinschaft“. Bleis literarisches Programm mit seinem Stilpluralismus zeigt hier seine dunkle Unterseite: Es ist die Sehnsucht nach dem großen vereinheitlichenden Stil, dem totalisierenden Entwurf, eine Sehnsucht, die Kapriolen schlägt, wenn Blei seiner Zeitschrift 'Die Rettung‘ das Motto voranstellt: „Es lebe der Kommunismus und die katholische Kirche“. Als eine „Gemeinschaft“, die sich als „Volksgemeinschaft“ verstand, Blei 1934 bat, der „Reichsschrifttumkammer“ beizutreten, lehnte dieser ab. Bleis Bücher durften daraufhin im „Reich“ nicht mehr erscheinen. Bleis letztes in Deutschland erschienenes Buch bleibt die Talleyrand-Biographie von 1932. Das Buch lobt den Machtpolitiker Talleyrand, der keine Prinzipien, sondern nur opportunistisch genutzte Gelegenheiten kennt. Ist also nach Kirche und Kommunismus der Zynismus die letzte „Rettung“? Den „Süßwasserfisch Blei“ wird auch hier die Lust gepackt haben, eine Position bis zum Ende durchzuspielen. Im Ernstfall hielt es Blei dann doch mit einem Satz seines „Schutzheiligen“ Friedrich Schlegel: „Man muß sich annihilieren können.“ Ein Satz, der als basso continuo die 1930 veröffentlichte Autobiographie Erzählung eines Lebens begleitet. Ein Satz, der sich entschlossen und ganz und gar nicht ironisch schwebend von allen geschlossenen Entwürfen, den politischen, den biographischen und den literarischen verabschiedet. Daß er sich dabei als Autor abhanden kam, nahm Blei billigend in Kauf. Der „Enzyklopädist der Randbemerkung“ — so nannte ihn sein Wiener Schriftstellerkollege Anton Kuh — starb am 10.Juli 1942 im amerikanischen Exil.