SHORT STORIES FROM AMERICA

■ Man muß ein Individuum ja nicht gleich als Mensch behandeln

Seit Vizepräsident Dan Quayle die Nation mit seinen Ansichten zu Murphy Brown, unverheirateten Müttern und der Orthographie des Wortes Kartoffel bekannt gemacht hat (vor Schülern in Trenton, New Jersey, verkündete er seine Überzeugung, „potato“ werde hinten mit einem zusätzlichen „e“ geschrieben), spricht das Land nur noch über Quayle. Anscheinend hat der Bursche eine Taktik entwickelt, wie man die äußerste Rechte zufriedenstellt — oder sich zumindest sagen lassen, er solle sich an die Taktik der republikanischen Werbefritzen halten. Diese Strategie geht so: Was Bush nicht sagen kann, weil er sonst die Mitte und die geistig noch nicht ganz Weggetretenen verprellen würde — das verkündet Quayle. Irgend jemand in der Partei, die gegenwärtig über dieses Land herrscht, muß so etwas wie ein Quayle-Programm entwickelt haben, und ich habe beschlossen, mehr darüber herauszufinden.

Wie die meisten Amerikaner habe ich als erstes kapiert, daß nach einer Wiederwahl der Republikaner in diesem Land „potato“ in Zukunft „potatoe“ geschrieben wird. Der nächste Punkt ist schon schwieriger: Was machen wir mit dem Plural? „Potatos“/Potatoes“? Vor Mitgliedern der Republikanischen Partei in New York hat Quayle (oder vielmehr „Quayle“ oder wer immer seine Texte schreibt) die Ansicht kundgetan, die Stadt hätte ihre beträchtlichen Probleme der Einmischung der Regierung in das Leben ihrer Einwohner zu verdanken. „Lassen Sie sie (die Demokraten) nicht im ganzen Land tun, was sie schon in New York angerichtet haben“, sagte „Quayle“. New Yorks Position als Stadt der Finanzen, Künste und Wissenschaften in Amerika kann er nicht gemeint haben. Er muß sich auf die traditionelle Position der Republikaner bezogen haben: Schafft uns die Stadtverwaltung vom Buckel. Damit bin ich völlig einverstanden. Ich glaube zum Beispiel, es geht die Verwaltung nichts an, ob eine Frau, die Stütze bekommt, eine sexuelle Beziehung zu einem Mann unterhält. Ich glaube, auch in New York sollte das die Verwaltung nichts angehen. Obwohl mir völlig neu war, daß die Wohlfahrt in anderen Städten weniger aufdringlich ist — wie „Quayle“ vermuten ließ —, dachte ich doch einen Augenblick, ich hätte verstanden, was er wollte.

Aber beim Kirchentag der Baptisten in Indianapolis brachte er mich wieder völlig durcheinander: dort sagte er, die Regierung solle Bestimmungen zur Abtreibung, Homosexualität, Sexualerziehung und Verteilung von Kondomen erlassen — denn nicht alle diese „Lebensstile“ seien gleichermaßen moralisch korrekt. Mit der Art laissez-faire-Position, die Quayle in New York empfahl, ist das schwer in Einklang zu bringen.

Ich geriet noch mehr in Verwirrung, als „Quayle“ sich Ross Perot vornahm. In der Presse hatten sich die Meldungen gehäuft, Perot führe Akten über andere Leute — bis hin zu Präsident Bush —, um sie besser kontrollieren zu können. „Quayle“ gab zu bedenken: „Stellen Sie sich vor, er hätte den Finger auf der IRS, dem FBI und der CIA. Wen würde er als nächsten überprüfen lassen?“ Wieder war ich bereit, dieser demokratischen Position aus vollem Herzen beizupflichten — „Quayle“ war für Regierung von unten, für die Kontrolle durch die Bürger statt durch die Elite. Aber gleichzeitig wendet sich seine Regierung gegen ein Gesetz, das die Wahlregistrierung von 60 auf 95Prozent steigern könnte. Unter der Bezeichnung „Autowähler“-Gesetz gestattet es den Bürgern, sich auch gleich als Wähler registrieren zu lassen, wenn sie ihren Führerschein erneuern oder andere Behördengänge antreten. In dreißig Staaten der USA ist das möglich, ohne daß irgendwelche Betrugsfälle bekannt geworden wären, und sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus ging das Gesetz ohne Schwierigkeiten durch. Zwei Drittel der siebzig Millionen Amerikaner, die nicht als Wähler registriert sind, haben ein unterdurchschnittliches Einkommen. Ich dachte, das wäre das ideale Gesetz für „Quayle“, der sich für die Regierung von unten einsetzt. Man kann meine Überraschung ermessen, als die Regierung sich dagegen aussprach.

Genauso verwirrt war ich auch von der „Quayle“-Position zur Toleranz. Bei dem schon erwähnten Kirchentag der Baptisten bezeichnete er liberale Positionen als „die eigentliche Intoleranz“. Er sagte, die Progressiven „diskriminierten jene, die von moralischen Werten sprechen“. Er sagte, sie hielten sich für eine „kulturelle Elite“, die glaube, sie könne sich über die Werte einfacher Menschen lustig machen. Das glaubte ich zu verstehen: ein Plädoyer für Pluralismus und Respekt vor anderen Meinungen — bis er sagte, seine Toleranz bedeute nicht, „unsere Standards von Recht und Unrecht, gut oder schlecht aufzugeben“. Seine moralischen Werte „vertreten den Konsens der Menschheit über das, was ein gutes Leben und eine gute Gesellschaft ausmacht“. Ich versuche noch immer, das alles zusammenzukriegen, wie zum Beispiel „po“ mit „ta“ und „to“, aber ich kriege es einfach nicht hin. Meint „Quayle“ nun, die Regierung, wie er sie sich vorstellt, werde die Sexualerziehung tolerieren, obwohl er sie für absolut falsch hält? Oder die Verteilung von Kondomen oder den Umweltschutz? Ist das nun gut, und wir verstehen es bloß nicht?

Einen Punkt des „Quayle“-Programms verstehe ich auf jeden Fall: die Überzeugung, die Vereinigten Staaten dürften Ausländer in ihrem Heimatland entführen und sie in den USA aburteilen, ohne Einverständnis ihrer eigenen Regierung. Genau das haben die USA mit einem gewissen Dr. Umberto Alvarez getan, den die mexikanische Regierung nicht an die Vereinigten Staaten auslieferte, als Alvarez angeklagt wurde, er habe 1985 einen amerikanischen Drogenfahnder umgebracht. Mitte Juni veröffentlichte der Oberste Gerichtshof einen Beschluß, wonach er der Regierung Bush bescheinigte, sie habe Alvarez aus seinem Büro in Guadalajara entführen dürfen. Damit müßt Ihr Euch eben abfinden, ihr Mexikaner. „Quayle“, trotz seiner massiven Proteste gegen Perots geheime, CIA- ähnliche Taktiken, hatte dagegen nichts einzuwenden. Soweit hab ichs begriffen. „Quayle“ ist für die Rechte der Individuen, aber deshalb muß ja noch nicht gleich jeder wie ein Mensch behandelt werden.

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning

MANMUSSEININDIVIDUUMJANICHTGLEICHALSMENSCHBEHANDELN.