: Ungarn: Haare in der Gulaschsuppe
Zwei Jahre Antall-Regierung bescheren den Magyaren ein gigantisches Haushaltsdefizit und die höchste Pro-Kopf-Verschuldung der Welt/ Der ökonomische Tiefpunkt steht jedoch noch aus ■ Aus Budapest Keno Verseck
Puszta, Paprika und Gulasch — mehr als je zuvor lockt die magyarische Mischung westeuropäische und amerikanische Touristen in das Land zwischen Donau und Theiß. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus läßt sich das Klischee mit Komfort verbinden. Budapest ist nicht nur schön, sondern auch die Boomtown Osteuropas. Ob beim Warenangebot und den vielen Westwagen, bei Banken, Boutiquen und postmodernen Neubauten — die Metropole scheint zu bestätigen, was die Antall-Regierung seit fast einem Jahr ständig propagiert: das Erfolgsmodell Ungarn.
Tatsächlich steht das Zehn-Millionen-Land beim Übergang zur Marktwirtschaft im Vergleich zu seinen osteuropäischen Nachbarn bis jetzt am besten da. Die ökonomische Talfahrt verlangsamt sich, die ohnehin niedrigste Inflationsrate von allen Ländern der Region stagniert sichtbar, der Schuldenberg hat sich bei 20 Milliarden Dollar stabilisiert. Ungarns Zahlungsbilanz weist ein Aktivum auf, die Hartwährungsreserven steigen, und der Kollaps des RGW-Markts konnte mit der Umlenkung der Exportströme nach Westen zum Teil abgefangen werden.
Mißt man den Stand der ungarischen Wirtschaft allerdings an den umfangreichen Vorhaben und vielversprechenden Prognosen, die die Regierung verkündete, erscheint das Modell Ungarn schnell als Flop. Weite Teile des Programms von Finanzminister Mihaly Kupa, vor allem Gesetzesreformen im Bereich des Staatshaushalts, der Sozialversicherung und des Steuerwesens, wurden nicht verwirklicht. Einige Experten betrachten es bereits als gescheitert. Der ökonomische Tiefpunkt, den Bela Kadar, Minister für internationale Wirtschaftsbeziehungen, seit Monaten immer wieder von neuem überschritten glaubt, steht den Anzeichen nach noch aus.
Nach anfänglicher Euphorie hat die Regierung die Hoffnung, 1992 werde endlich den Aufschwung bringen, inzwischen aufgegeben. Die industrielle Produktion fällt weiter, wenn auch langsamer als 1991. Seit Jahresbeginn steigt die Arbeitslosigkeit rapide an, trotz immer noch vorhandener Kapazitätsüberhänge in der Industrie. Die Inflationsrate wird wahrscheinlich nicht die erhofften 20 Prozent erreichen, sondern bei 25 Prozent liegen. Konjunkturforscher rechnen statt des von der Regierung ursprünglich anvisierten null- bis zweiprozentigen Wachstums für 1992 mit einem etwas geringeren Rückgang als 1991. Entgegen den Prognosen belebte sich auch der Osthandel noch nicht wieder, und der Boom ausländischer Investitionen schwächt sich langsam ab.
Große Sorge bereitet derzeit das Hyperdefizit im Staatshaushalt. Mit 78 Milliarden Forint (1,56 Milliarden Mark) liegt es mittlerweile höher als das geplante Jahresgesamtdefizit von 69,8 Milliarden (knapp 1,4 Milliarden Mark). Das Finanzministerium präsentierte deshalb Ende Juni ein Nachtragsbudget, in dem das Defizit auf 178,6 Milliarden modifiziert wurde. Doch ob diese Summe am Ende eingehalten werden kann, ist fraglich. Entstanden ist das hohe Defizit nicht etwa, weil umfangreiche infrastrukturelle Investitionen vorgenommen worden wären, die sich später auszahlen würden.
Die Regierung ging bei der Budgetberechnung im letzten Jahr schlicht von zu optimistischen Zahlen aus. Vor allem bei den Steuern fließen die Gelder nicht herein. Andererseits sind die Jahresreserven des Solidaritätsfonds, aus dem Arbeitslosen- und Sozialhilfe bezahlt werden, aufgrund der massiven Entlassungswelle bereits erschöpft. So könnte das Haushaltsdefizit am Jahresende acht bis elf Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachen — doppelt soviel wie in Westeuropa üblich.
Ein Faktor, der Ungarns Staatsfinanzen ebenfalls nachhaltig belastet, ist der Schuldendienst. Ungarn hat die höchste Pro-Kopf-Verschuldung der Welt; die Zinstilgungen machen fünf Prozent des BSP aus — Platz vier der Weltrangliste. Trotz dieser ungeheuren Belastung will die Regierung unter allen Umständen vermeiden, wie Polen beim IWF eine Umschuldung zu beantragen, um die Kreditfähigkeit auch bei privaten Geldgebern nicht einzubüßen. Doch die Gelder, die der Musterknabe Ungarn in den Schuldendienst pumpt, fehlen zur Sanierung der Ökonomie. Die Schuldendienstquote — das Verhältnis der Schuldentilgung zu den Exporterlösen — macht immer noch 32 Prozent aus. Die Privatisierung bleibt daher weiterhin strikt einnahmenorientiert und zum großen Teil Mittel, um die Staatsschulden zu tilgen.
Angesichts nicht eingelöster Regierungsversprechen fällt die Kritik der Opposition und ihr nahestehender Experten geradezu vernichtend aus. Peter Tölgyessy, Vorsitzender der größten Oppositionspartei Bund Freier Demokraten (SZDSZ), wirft der Regierung „Ersatzhandlungen“ statt praktischer Politik vor. Der SZDSZ-Ökonom Tamas Bauer spricht in einem Essay über zwei Jahre Antall-Regierung von einer „verpaßten Chance“ beim Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie, und SZDSZ-Fraktionschef Marton Tardos meint, Ungarn werde sich bald auf „afrikanischem Niveau“ wiederfinden. Die zur Zeit in Budapest weilende IWF-Delegation wird, wie immer nach ihren Halbjahreskontrollen, wohl auch damit zufrieden sein — wenn nur das Land seinen Schuldendienst ableistet.
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