Flucht vor Tod und Terror

■ Über zwei Millionen Menschen hat der Krieg auf dem Balkan entwurzelt. Es ist die größte Fluchtbewegung in Europa seit den Massenvertreibungen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs und Deutschland macht...

Flucht vor Tod und Terror Über zwei Millionen Menschen hat der Krieg auf dem Balkan entwurzelt. Es ist die größte Fluchtbewegung in Europa seit den Massenvertreibungen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs — und Deutschland macht die Grenzen dicht. Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina werden zurückgewiesen. Es ist ein flagranter Verstoß gegen die auch von der Bundesregierung unterzeichnete Genfer Flüchtlingskonvention.

Buchstaben und Geist der Übereinkunft lassen keine Zweifel zu. „Jede Person, die, veranlaßt durch wohlbegründete Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Meinung (glaubt,) verfolgt zu sein, sich außerhalb des Landes ihrer Staatsangehörigkeit befindet“, so heißt es im Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, gilt als Flüchtling. Und ein Flüchtling darf nach Artikel 33 desselben Abkommens nicht zurückgewiesen werden. Die Bundesrepublik Deutschland verstößt tagtäglich gegen Buchstaben und Geist dieser von ihr mitunterzeichneten Konvention. Wer die Fernsehbilder von verstümmelten Menschen in Bosnien-Herzegowina gesehen hat, wer die Hetzreden der Führer der nationalistischen Milizen gehört hat, weiß, daß Hunderttausende wohlbegründet fürchten müssen, allein aufgrund ihrer Nationalität erschossen, vergewaltigt, geblendet oder kastriert zu werden — und so fliehen sie eben. Wer es bis zur deutschen Grenze schafft, wird — unter flagrantem Bruch der Flüchtlingskonvention — zurückgewiesen. Als die Länderinnenminister am 22. Mai beschlossen, die Visumspflicht für Bosnien-Herzegowiner beizubehalten, das heißt letztlich die Flüchtlinge — Ausnahmen bestätigen die Regel — generell abzuweisen, setzten sie sich über alle Verpflichtungen, die sich aus der deutschen Unterschrift unter die Flüchtlinskonvention ergeben, schlicht und einfach hinweg.

Schon über zwei Millionen Menschen hat der Krieg auf dem Balkan in einem Jahr in die Flucht getrieben, über eine Million allein in den letzten zwei Monaten. Es ist die größte europäische Fluchtbewegung seit der Massenvertreibung nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs. Und Deutschland macht die Grenzen dicht. Bürger aus Slowenien und Kroatien dürfen zwar frei einreisen — nicht aber Bürger aus Bosnien- Herzegowina, dessen staatliche Unabhängigkeit Deutschland im April ebenfalls anerkannt hat. Das Boot ist offenbar voll.

Voll? Allein im kleinen Slowenien leben nach UNO-Angaben 60.000 Flüchtlinge aus Bosnien- Herzegowina. Es ist, hochgerechnet, als ob drei Millionen Bosnier in Deutschland Aufnahme gefunden hätten. Haben sie aber nicht. Daß auch die anderen EG-Staaten die Ohren auf Durchzug stellen und dicht machen, ist kein Argument. Es macht diesen himmelschreienden Skandal nur noch größer. Außerhalb des jugoslawischen Raums scheint von den betroffenen Staaten allein Ungarn einer humanen und humanitären Flüchtlingspolitik verpflichtet — noch jedenfalls. Es ist die vierte Fluchtbewegung in dieses Land seit 1989 : erst die Ostdeutschen, dann die Rumänen, schließlich die Kroaten, und jetzt die Bosnier.

Die meisten Flüchtlinge leben in Bosnien-Herzegowina und Kroatien selbst, als Vertriebene im eigenen Land, als displaced persons. In Bosnien-Herzegowina unter Bedingungen, die wir nicht kennen. In der ganzen Republik herrscht Krieg. Über Sarajevo erfährt man zwar inzwischen einiges, doch wie es im Rest des Landes aussieht, ist weitgehend unbekannt. Weder UNO-Beobachter, noch Rotkreuz-Sanitäter, noch Journalisten getrauen sich, durchs Land zu reisen. Dutzende von Städten sind wohl eingekesselt. Laut übereinstimmenden Berichten aus Belgrad und Zagreb verhungern in der von muslimischen Verbänden gehaltenen, aber seit zwei Monaten von serbischen Milizen umzingelten Stadt Gorazde täglich mindestens ein Dutzend Menschen. Gerüchte über Massaker, Konzentrationslager, Massenerschießungen und Massengräber machen die Runde. Zu überprüfen sind sie nicht. Nach Schätzungen der Regierung in Sarajevo sind bisher in Bosnien über 50.000 Menschen ermordet worden, darunter über 5.000 Kinder. Von den bisher vermutlich 200.000 Verwundeten werden mindestens 15.000 für immer Kriegsinvaliden bleiben.

Allein in Kroatien leben inzwischen an die 300.000 bosnische Kriegsflüchtlinge. Ihres Lebens können sie einigermaßen sicher sein. Im übrigen ist ihre Lage katastrophal. Kroatien, dessen Industrie im Krieg zu einem großen Teil zerstört wurde, liegt wirtschaftlich am Boden, nachdem die Haupteinnahmequelle — der Tourismus an den Stränden der adriatischen Küste — versiegt ist. Und so ist es nur zu begrüßen, daß die Bundesregierung über ein Büro des Auswärtigen Amtes in Zagreb Hilfssendungen — Medikamente, Kleidung, Nahrung — im Wert von 80 Millionen Mark an kroatische, bosnische, aber auch serbische Flüchtlinge liefert. Doch ist all das kein Grund, die Grenze bei Salzburg zu sperren.

Ganz dicht ist die Grenze nicht, das muß fairerweise eingeräumt werden. Wer verwundet ist oder einen Freund oder Verwandten in Deutschland hat, der ihn an der österreichischen Grenze abholt, darf einreisen. Theoretisch jedenfalls. Praktisch sieht es so aus, daß der ausländische Freund oder Verwandte eine „Einladungs- und Verpflichterklärung“ vorlegen muß, aus der hervorgeht, daß er alle Kosten für den Flüchtling übernimmt, „selbst wenn ein gesetzlicher Anspruch auf die Aufwendungen besteht“. Doch damit nicht genug. Die Erklärung muß vom Ausländeramt beglaubigt werden. Dieses wiederum kann durch Vorlage eines Mietvertrags, einer Verdienstbescheinigung oder einer Unbedenklichkeitsabfrage aus dem Ausländerzentralregister in Bonn erfolgen. Lauter bürokratische Tücken, die zu bewußten Verzögerungen geradezu animieren und viele potentielle Gastgeber abschrecken dürften. Flüchtlingshilfeorganisationen berichten, daß Freunde und Verwandte, die aus Norddeutschland an die südbayerische Grenze gereist sind und wegen fehlender Stempel wieder zurückgeschickt wurden, — und auch davon, daß sogar Bosnier mit gültigem Visum nicht einreisen durften.

Bleibt den wenigen zehntausend Flüchtlingen, die an der deutschen Grenze Einlaß begehren, nur eins: der Antrag auf politisches Asyl. Er darf nicht zurückgewiesen werden. Dürfte nicht. Doch welcher Flüchtling hat schon an der Grenze einen Anwalt, der ihm zu seinem im Grundgesetzparagraphen 16 verbrieften Recht verhilft? Immerhin haben bis Ende Mai dieses Jahres trotz alledem bereits 62.011 Ex-Jugoslawen, vor allem aus Bosnien- Herzegowina, einen Asylantrag gestellt. Sie machen genau 40 Prozent aller Asylbewerber aus. Die allermeisten von ihnen sind Kriegsflüchtlinge, die mit einem vorübergehenden Bleiberecht wohl zufrieden wären, das ihnen Deutschland aufgrund der Flüchtlingskonvention zugestehen müßte, aber eben verwehrt.

So produzieren unsere Politiker also „Asylanten“, die dann die „Fluten“ von Ausländern erzeugen, die Deutschland offenbar zu „ertränken“ drohen und als Begründung für die Abschaffung des Asylrechts herhalten müssen. Und unsere Politiker wissen, was sie tun. Sie wissen über die Ursachen der Migrationsströme, die sich ohnehin nicht aufhalten lassen, weil der Westen zwar den Osten besiegt hat, ihn aber weder befriedigen noch befrieden kann. Doch kaum einer hat den Mut, steht auf und sagt: Grenzen auf, wenigstens für diejenigen, die gerade dem Tod noch rechtzeitig entronnen sind! Thomas Schmid