Alisa Fuss, 73 Jahre und kein bißchen müde

■ Die Jüdin und Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte ist seit fast 60 Jahren aktiv/ Selbst vor den Nazis geflüchtet, setzt sie sich für Flüchtlinge ein/ Die von ihr mitbegründete »Jüdische Gruppe Berlin« arbeitet seit zehn Jahren

Moabit. Was zuerst an ihr auffällt, ist ihre Bescheidenheit. »Ein Porträt über mich? Ach nein, ich steh' nicht so gerne in der ersten Reihe.« Dabei steht sie seit Jahren dort: in Mahnwachen für die Rechte von Flüchtlingen, bei Friedensdemonstrationen, bei Aktionen gegen Rassismus und Antisemitismus. Als der Kurde Kemal Cemal Altun 1982 abgeschoben werden sollte, kettete sie sich am Gerichtsgebäude an. Als der Golfkrieg begann, organisierte sie die »Aktion Atempause«: Flug und Unterkunft in Berlin für ärmere Jüdinnen und Araberinnen aus Israel und ihre Kinder, »weil ich weiß, wie schrecklich es ist, einem Kind eine Gasmaske überstülpen zu müssen«. Als die Pogrome von Hoyerswerda losbrachen, fuhr sie mit ihrer »Liga für Menschenrechte« und anderen im ersten Solidaritätskonvoi für die bedrohten AusländerInnen nach Sachsen und rief zu Mahnwachen vor Berliner Flüchtlingsheimen auf.

Alisa Fuss, die Unermüdliche. 73 Jahre ist sie alt, seit 59 Jahren politisch aktiv. Ihre kleine Wohnung im Hansaviertel — bescheiden wie sie selbst — ist voll mit Fotos, Büchern, Archivmaterial und Reiseerinnerungen. Hier in der Nähe, in der Altonaer Straße, wurde sie 1919 als Tochter einer liberalen jüdischen Familie geboren, hierher kehrte sie nach 41 Jahren Leben in Israel zurück.

»Mein Vater, ein Kaufmann, war streng religiös«, erzählt sie. »Wir hatten dann in Zehlendorf sogar eine Haussynagoge mit Thorarollen, weil es in der Nähe keine andere Synagoge gab.« Als den Nazis die Macht übergeben wurde, war Alisa vierzehn, verließ die Schule, schloß sich der zionistischen Jugendbewegung an und begann eine Malerlehre. Schon als Sechzehnjährige sehr selbständig, entzog sie sich mit ihrer Gruppe dem Naziterror durch Auswanderung nach Palästina, ihre Eltern und den jüngeren Bruder wollte sie nachkommen lassen. Diese aber bekamen die nötigen Zertifikate nicht und flüchteten mit Hilfe einer Schlepperorganisation nach Argentinien. Ihr Schiff sollte zuerst nicht festmachen dürfen, verzweifelte Frauen sprangen mit ihren Kindern ins Wasser. Der Bruder konnte sich dort ansiedeln und wurde Gewerkschafter, aber die Eltern überlebten die Reise nicht lange. »Die Strapazen waren für sie zu groß«, sagt die Tochter, die solches Flüchtlingselend, das sich auch heute noch millionenfach abspielt, nicht vergessen kann.

In Palästina indes herrschte unter den jugendlichen EinwanderInnen in den Kibbuzim die helle Euphorie. »Wir glaubten, wir bauen jetzt den Sozialismus auf«, berichtet Alisa Fuss. Daß dort selbst die Kleidung kollektiviert war und sie nach der Wäsche nie dieselbe Bluse zurückbekam, machte ihr, der Bescheidenen, gar nichts: »Mir behagte das Kommuneleben.« Erste Zweifel spürte sie jedoch, als der Nachbarkibbuz einem arabischen Dorf das Wasser abstellte und seine BewohnerInnen zum Wegzug zwang. Und als sie miterlebte, wie den arabischen Arbeitern einer Salzgewinnungsanlage am Toten Meer Schuhe gegen das ätzende Salz verweigert wurden: »Sie streikten, um Schuhe wie die Juden zu bekommen, aber die Kibbuzbewegung stellte Streikbrecher. Nach zwei Wochen mußten sie zu Kreuze kriechen und barfuß weiterarbeiten.« Weil dann auch die militärische Organisation Hagana, in der sie wie alle im Kibbuz Mitglied war, Präventivangriffe auf arabische Dörfer verlangte und die 18jährige Alisa vergeblich eine Diskussion mit den Verantwortlichen einforderte, ging sie. Konsequent und kurzentschlossen. Nach Jerusalem.

Dort fand sie zu Martin Buber und seinem Kreis, der für eine friedliche Lösung in einem binationalen Staat eintrat. Sie jobbte als Malerin und fütterte mit ihrem kleinen Lohn auch noch andere durch. In einem Kinderdorf leitete sie eine Jugendgruppe, bis sie heiratete, 1943 ihren ersten von drei Söhnen bekam, 1946 im Abendstudium ihr Examen als Lehrerin ablegte und 1947 als solche arbeitete. Nach einem Zusatzstudium der Biologie und Psychologie wurde sie Sonderschullehrerin für verhaltensgestörte Kinder und schrieb darüber, in hebräisch und deutsch, viele Aufsätze und ein Buch.

Die Schwierigen, das Schwierige haben sie als Herausforderung offenbar stets gereizt. Ihre berufliche Spezialisierung sollte sie schließlich auch nach Deutschland zurückführen. Sie wurde immer wieder zu Vorträgen nach Europa eingeladen, und nach dem Tod ihres Mannes 1976 nahm sie ein Angebot des Hartmut von Hentigs in einer Versuchsschule der Universität Bielefeld an. »Aus einem Jahr wurden vier«, lacht sie, »weil es mir dort so gut gefiel.« Als 61jährige, ausgestattet mit einer kleinen Rente, ging sie zurück nach Berlin, wo nun auch einer ihrer Söhne lebt. Hier schloß sie sich, wie schon in Israel, der »Internationalen Liga für Menschenrechte« an.

Die Liga, der sie seit knapp zwei Jahren als Präsidentin vorsteht, ist nur fünf Jahre älter als sie: Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde sie von PazifistInnen als »Bund Neues Vaterland« gegründet. Ihr gehörten Berühmtheiten wie Albert Einstein, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky an, dem 1936, durch die KZ- Torturen bereits vom Tod gezeichnet, nach einer weltweiten Kampagne der Liga der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Auch Alisa Fuss erhielt 1987 für ihr Engagement eine Auszeichnung: den Ingeborg-Drewitz-Preis der Humanistischen Union. Derzeit, berichtet sie, habe ihre Organisation bundesweit rund 300 Mitglieder. Im Unterschied zu anderen Menschenrechtsgruppen sind die ehrenamtlich arbeitenden Mitglieder nicht auf ein bestimmtes Thema spezialisiert, auch wenn ihr Asylfragen sehr am Herzen liegen. Neben Informationsveranstaltungen zu einzelnen Ländern setzt sie sich auch für die internationale Verankerung des »Menschenrechts auf Entwicklung« und für mehr Bürgerrechte in der EG nach Schengen und Maastricht ein.

Das besondere Anliegen der Jüdin Alisa Fuss, die sich nach Hoyerswerda als »Judensau« beschimpfen lassen mußte, ist jedoch die israelisch-palästinensische Verständigung. Sie organisierte diverse Dialogveranstaltungen und machte schon vor drei Jahren die jetzigen palästinensischen VerhandlungsführerInnen Hanan Ashrawi und Feisal Husseini dem Berliner Publikum bekannt. Außerdem war sie Mitbegründerin der »Jüdischen Gruppe Berlin«, die 1982 gegen den israelischen Angriff im Libanon Stellung bezog und dieser Tage ihr zehnjähriges Jubiläum feierte. Seit einem Jahr treffen sie sich zudem mit anderen Gruppen monatlich an einem »jüdischen Runden Tisch«.

Daß die alte israelische Regierung nun gehen muß, freut die unermüdliche Alisa: »Das Wahlergebnis hat gezeigt, daß das Volk sich nicht an der Nase herumführen läßt.« Und noch etwas setzt sie hinzu: »Ich denke nicht daran, die Hoffnung aufzugeben.« Bescheiden, aber trotzig. Ute Scheub