PREDIGTKRITIK
: Wohl bekomm's!

■ Semisakrales aus dem Standesamt

Die heutige Predigtkritik vernimmt das Wort Gottes an einem Ort, an dem es nicht ohne weiteres zu vermuten ist: auf dem Standesamt Neukölln.

Die Braut ist lieblich, aber keineswegs mehr jungfräulich, der Bräutigam gar kahl und ein wenig verknittert, und es sieht ganz so aus, als würden die beiden das Ganze so ernst nicht nehmen. Die Unkenntnis der Hochzeitsgesellschaft, an welcher Stelle der Zeremonie sich wer und warum zu erheben hat, bewegt sich auf mittlerem Christmetten- oder Gerichtsverhandlungsniveau. Der Christenmensch erfährt die Ehe als Sakrament, als einen heiligen Akt, in dem die Brautleute der Gnade Gottes teilhaftig werden; bei der Zivilehe hingegen fällt der Bürger der Verwaltung anheim — in Anwesenheit seiner Verwandtschaft. Diese unio buerocratica vollzieht sich in einem Ritual, bei dem Harmoniummusik fakultativ, eine Rede jedoch obligatorisch ist. Denn es handelt sich ja nicht um einen einfachen Verwaltungsakt, der mit dem guten Wunsch ein Ende hätte, daß nun ein jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden möge. Der Staat, in Gestalt der Verwaltung, zeigt sein problematischstes Gesicht, sein menschliches nämlich. Statt den angetretenen Bürger, und selbstverständlich auch die nervöse Bürgerin, über das neue Scheidungsrecht, öffentliche Kindergartenplätze oder andere seiner Segnungen aufzuklären, zwingt eine unzumutbare Verwaltungsvorschrift die heute hier anwesende Angestellte des Neuköllner Standesamtes dazu, das Brautpaar mit Anmerkungen zu seinem künftigen Eheleben aufzumuntern.

Eine merkwürdige Übersprunghandlung zwingt sie dazu, ihre Rede mit einem humorigen, im äußersten Falle herzlichen Duktus zu würzen. Während dem religösen Prediger der ganze Kosmos des Alten und Neuen Testaments zur Verfügung steht, schnurrt die Ehe aus der Sicht der halbbebrillten und beamteten Dame auf die dürre Metapher ungenannter Höhen und Tiefen zusammen. Nicht schlecht, welchen Tip sie für unser Paar bereithält: In der Tiefe möge sich doch keiner der beiden Beteiligten in den Schmollwinkel zurückziehen. Offensichtlich gehört ein Schmollwinkel zur unverzichtbaren Basisausstattung eines jeden modernen Ehestandes. Das ist die Ehe: Höhen und Tiefen und dann reden, reden, reden.

Der jetzt rhetorisch geradezu zwingende Ausflug ins Meteorologische wird unerklärlicherweise vermieden, und es folgt eine unerwartete Wendung der Metaphorik ins Gastrointestinal-Kulinarische, die von tiefer Lebensweisheit zeugt. In der Ehe sei es nämlich wie beim Kochen einer guten Mahlzeit: die Zutaten müßten sorgfältig ausgewählt und liebevoll zubereitet werden, dann komme es auf Geschick und auch Geduld an, der Tisch müsse festlich gedeckt werden. Doch wichtiger noch als das Aroma, die Würze, die Zartheit, der Geschmack der Speise sei etwas ganz anderes: die Bekömmlichkeit des Ganzen. Erspart blieb der Hochzeitsgesellschaft das weitere Ausschmücken dieses Szenarios von Blähungen, Hartleibigkeit und Durchfällen. Die Bekömmlichkeit in der Ehe: täglich ein geregelter Stuhlgang. Christoph Wingender