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Das Schweigen der Platten

In Dresden trafen sich Architekten aus Ost und West zu einem Symposium: Verschlossene Gemüter in einer offenen Stadt. Der Dialog litt an symptomatischen Störungen  ■ Von Niklaus Hablützel

Vor der Wende schien alles so viel einfacher. Die Architekturfakultäten Stuttgarts und Dresdens hielten seit Jahren Kontakt untereinander, Studierende und Lehrende trafen sich wiederholt hüben wie drüben zum Gedankenaustausch. Vergangene Woche war es wieder soweit. Die Universität Stuttgart hatte vom 1. bis zum 3. Juli ein Architektursymposium in Dresden organisiert. Aber nun, da unter dem Titel „Zukunft der Gegenwart — neues Bauen im historischen Kontext“ keine politische Geste, sondern höchst praktische Fragen von einiger Dringlichkeit auf dem Programm standen, herrschte betretenes Schweigen zwischen den Systemfronten, die es offiziell doch nicht mehr geben darf. Ohne nennenswerte Diskussion hörten Studenten im Theatersaal der Dresdner TU zwei volle Tage lang Werkstattberichte, im Foyer blieben die Fachkollegen aus dem Westen wie aus dem Osten am liebsten unter ihresgleichen, und auch eine Ausstellung von Dipolmarbeiten beider Fakultäten weckte kaum mehr als höfliches, verdecktes Desinteresse.

Gereizter Nerv

Wenig sensibel in der Tat hatten Stuttgarter Studenten gleich eine Philharmonie entworfen, und ihrer Schularbeit ungeniert jenes Stück Elbufer reserviert, das den wunderbaren Brühlschen Terassen genau gegenüber liegt. Exponiertere Bauplätze dürften kaum zu finden sein, die Dresdener hatten sich mit bescheideneren Plänen begnügt: ein Hotel in einer Nebenstraße der Innenstadt, eine Bibliothek in einem historischen Speicher. Glücklicherweise hat nichts von alledem eine Chance, verwirklicht zu werden, doch unter der Oberfläche blieb die Stimmung fortan gereizt, sie entlud sich am Morgen nach der Ausstellungseröffnung.

Es ging um das, was inzwischen bedenkenlos „unsere Erfahrung“ heißt. Wulf Brandstädter, Architekt und zu Zeiten der DDR Stadtbaudirektor in Halle, war mit der These angetreten, daß es sehr wohl möglich war, „mit der Großplatte in gewachsenen Altbaustrukturen“ zu bauen, so der verräterische Titel seines Vortrags. Die Beispiele aus der Altstadt Halles bewiesen jedoch vor allem, daß die architektonische Erbsünde auch unter solch wahrlich schwierigen Bedingungen eine Chance hatte. Denn sogar mit Fertigplatten konnten Gebäude maßstabsgetreu vorgetäuscht werden, die niemals existiert haben.

Mit gequälter Höflichkeit trug der Denkmalschützer Georg Mörsch, aus Zürich angereist, seine naheliegenden Einwände gegen jeden Nachahmungsversuch kategorisch unwiederholbarer Zeugnisse der Geschichte vor. Er legte nur die gereizten Nerven vollends blank. Entschuldigend zunächst, dann aber hochfahrend in verletzten Stolz endete Brandstädters Antwort in jenem stereotypen Satz, der seit langem jede weitere Diskussion dieser Art zu verhindern pflegt: „Wer hier nicht gewohnt hat, kann nicht wissen, was das für uns bedeutet hat, was wir da erkämpft haben.“ Donnernder Applaus und zum ersten und einzigen Mal meldete sich ein Student in diesem Kongreß für einen längeren Beitrag zu Wort: „Ich habe den Eindruck, die Herren aus dem Westen machen es sich etwas zu leicht.“

Geschichte mit Fertigteilen

Wirklich? Immerhin hatte Egon Schirmbeck, Professor an der Universität Stuttgart, Architekten von europäischem Rang nach Dresden gerufen: Karljosef Schattner, seit Jahrzehnten umstrittene Kultfigur selbstbewußt modernen Umbaus historischer Gebäude, oder — stellvertretend für die jüngere Generation — Jo Coenen aus der niederländischen Schule, aus der Schweiz den schockiernden Minimalisten Roger Diener, aus Spanien Guillermo Vazquez Consuerga, soeben hochgelobt für sein Schiffahrtsmuseum auf dem Gelände der Weltausstellung von Sevilla. Nur Christian de Portzemparc war nicht gekommen: Der Konstrukteur der subtilen Cité de la musique neben dem Parc de la Villette, dem Pariser Lehrgehege für Dekonstruktivisten aller Couleur, war kurzfristig anderen Repräsentationsaufgaben gefolgt, wie es hieß. Nein, Dresden ist eben schon lange nicht mehr — und noch lange nicht wieder — ein verpflichtendes Zentrum europäischer Baukultur. Die Stadt ist ein Fragment, Architektur steht bloß herum, ist mal aufdringlich restauriert wie im Falle der Semperoper, mal bedenklich heruntergekommene Schönheit barocker Ruinen. Dann ist sie wieder abwesend, daher als Lücke deutlich fühlbar, oft auch nur ein Grund zum Wegsehen, wenn die sozialistischen Plattenbauten den Blick verstellen.

Sie tun das leider allzusehr. Auch ohne Portzemparc, den Pariser Star, wäre die Gelegenheit günstig gewesen, wenigstens die Fragen aus dem Mief des Eingemachten herauszuholen und richtigzustellen. Doch auch das gelang noch nicht. Realistisch betrachtet, kann es wohl nicht viel anders sein. Kongresse wie dieser sind dennoch hilfreich, weil sie Symptome zeigen, auch wenn noch nicht unbefangen darüber gesprochen werden kann. Denn Architektur, ob gelungen oder nicht, reicht tief hinunter in die Seele. Es geht um die Behausung, weniger um Wände, Dächer und Fenster, die millionenfach wiederholbar als Fertigteile auf die Baustellen geliefert wurden.

Auch die Fertigteile gehören zu jener Geschichte, mit der insgesamt pfleglich umzugehen sei, wie Georg Mörsch schon zur Eröffnung des Kongresses gemahnt hatte. Niemand widersprach, in diesem so sehr um Ausgleich der Interessen bemühten Vortrag war von den Plattenbauten nicht die Rede gewesen. Mörsch hat sie nicht ganz vergessen, aber nur im privaten Gespräch möchte er einige davon in die Denkmallisten aufgenommen wissen. Seine Lehrbeispiele stammten dennoch alle aus dem vergleichsweise idyllischen Westen, und so war von Anfang an die Chance des Ortes vertan, dieser Stadt Dresden, die so sichtbar nicht weiß, was aus ihr werden soll.

Ermüdend ausführlich redeten in der Folge die Referenten über sie hinweg — übrigens Männer allesamt mit der einzigen Ausnahme von Karla Szyszkowitz-Kowalski aus Graz, deren Vortrag allerdings so angesetzt war, daß er hinter das Tagungsende wegrutschte. Schon vor dieser blamablen Fehlplanung der Kongreßmacher hatte Boris Podrecca die Geduld selbst der Beharrlichsten strapaziert. Dem Wiener Charmeur aus Triest ist halt alles recht, was hübsch aussieht und stark symbolisch wirkt. Es darf ein Säulchen in Venedig sein, ein Verkaufssalon für japanische Autos auf der grünen Wiese, oder auch ein Generalplan für die Überbauung des Wiener Centralbahnhofs, neckisch an einer bislang nicht recht erkennbaren, imaginären Achse zum Stephansdom aufgehängt. Nun ja, die Stadt ist eigentlich ein konzentrisches Gebilde — „das nächste Bild bittesehr“ — aber auch linear strukturiert, wie man's nimmt, es wird schon irgendwie passen.

Tatsächlich bauen müssen Podreccas arg klotziges Straßenraster aber andere, Heinz Tesar, der Freund aus Innsbruck, hat schon mal einen ziemlich schwungvollen Gedankenblitz hineingezeichnet, mangels realer Bauten zeigte der Vortragende aber doch lieber seine „Notizbücheln“ und stellte die Mansardenwohnung im Diapositiv vor, die er für ein Wiener Geigerehepaar entworfen hatte — samt Vitrine für die echte Stradivari: Man muß kein finsterer Ossi sein, um eine derart atemlos um Effekte ringende Postmoderne etwas unseriös zu finden.

Geliebtes Rotterdam

Denn es gab Beispiele, die zu diskutieren statt unter dem Generalverdacht der Arroganz abzuwehren gewesen wären. Fernab von den viel zu engen Erfahrungshorizonten ostdeutscher Architektur waren manchen der Vorträge wenigstens Hinweise zu entnehmen, wie denn auch hier weitergebaut werden könnte, Leitmarken gegen die Verleugnung der jüngsten Vergangenheit wie der Verklärung des fürstlichen Barock und der bürgerlichen Gründerzeit, die beide das touristisch lieb gewordene Bild Dresdens prägen.

Die großen Lücken des Krieges dürften noch das geringste Problem sein. Sie haben den Grundriß Dresdens zum Puzzle gemacht, ein Jo Coenen jedoch fühlt sich sichtlich am wohlsten in zusammenhangslosen Teilen. Sie erinnern ihn an sein geliebtes Rotterdam, und Coenens Entwurf einer Wohnsiedlung auf einer stillgelegten Ruhrgebietsgrube verlieh dem kalauernden Kongreßtitel „Zukunft der Gegenwart“ überraschend konkreten Sinn. Die Dreckwunde im Neubaugebiet ist längst ein verbotener, daher beliebter Kinderspielplatz geworden, gerade sie möchte Coenen der Zukunft überliefern, dichtgedrängt und platzsparend stellt er seine Wohnscheiben wie entgleiste Schnellzugwagons in die Mitte des Brachfeldes, das im übrigen höchst sparsam erschlossen und keinesfalls gärtnerisch möbliert werden soll.

So viel Sinn für tatsächliche Geschichte jenseits aller ästhetischen Überhöhung mag überall befremden, besonders aber im Osten, wo erträgliches Leben offenbar nur in anheimelnden Nischen vorstellbar war. Dieses Denken in Reservaten hat wohl auch die unbegreiflich naiven Bergdörfer des Georgiers Vakhtang Davitaia hervorgebracht, Beispiele einer Reformarchitektur, die nie davor zurückschreckte, den offen eingestandenen Patriotismus dieser Imitation bäuerlicher Formen durch monumentale Heldengedenkstätten in Sichtbeton zu ergänzen.

Höfliches Schweigen auch hier, schade nur, daß ebenso über Coenens so unbestechlich zivile Vision einer offenen, undefinierten Stadt hinweggegangen wurde. Gerade sie könnte leicht aufgegriffen werden, denn sie verträgt sich sogar mit Fertigbauteilen, die aus angeblich ökonomischen Gründen noch immer für unverzichtbar gelten. Im Falle der Sanierung eines Arbeiterviertels von Den Haag hat Coenen einen Baukasten für beliebige Architekten entworfen. Doch schüchterne Nachfragen nach dem auch darin herumgeisternden Begriff „guter Architektur“ erlaubte sich eine Studentin erst nach dem Vortrag Karljosef Schattners. Sie wurde unwirsch abgefertigt, Schattner weiß definitiv, was gut ist, er baut in der kleinen Residenz- und Diözesanstadt Eichstätt seit nunmehr 30 Jahren an seiner Personalutopie einer im Kern zeitlosen Versöhnung von Geschichte und Moderne. Autokratisch und mit dem Segen der örtlichen katholischen Kirche versehen, hatte der in Magdeburg geborene Architekt schon 1960 alle Debatten um historische Angemessenheit auf seine Weise entschieden: durch strikte Konfrontation der historischen Formen mit kühler, aber eleganter Sachlichkeit. Einander gänzlich fremde Materialien und Techniken sollen nunmehr in dialektischen Synthesen das Ideal des Bauens schlechthin erfüllen. In Eichstätt, Schattners nahezu einziger Wirkungsstätte, gelingt der Kraftakt meistens leidlich, manchmal unglaublich schön, vor Nachahmung auf niedrigerem Niveau wird seit langem und überall dringend gewarnt.

Lautstarke Verkennung

Lehrreich ist der Fall aber allemal für den Begriff der Harmonie, der just jenen Architekten des Ostens wichtig gewesen zu sein scheint, die heute auf ihre tätige Opposition gegen den von oben verordneten Ungeist pochen. Harmonisch nämlich sollte sich auch Peter Baumbachs Fünfgibelhaus in den historischen Universitätsplatz von Rostock einfügen. An Schattners Werk ist Mißverständnis abzulesen. Anders als Brandstädter in Halle hat Baumbach versucht, seinen Platten einen ihnen eigentümlichen Reiz abzugewinnen. Die Fassade bricht in rhytmisch deutbare Längsstreifen auseinander, sogar das in solchen Baufällen viefach zu beobachtende, hilflos vor die Wand gesetzte Glockenspiel wirkt hier als verständliche Fortsetzung der musikalischen Grundidee. Aber das Gebäude besticht nur durch diese Abweichung von der Norm, verweist polemisch auf die Neubausiedlungen am Stadtrand, während seine Giebelformen, die an die exaltierten Blendwerke der örtlichen Backsteingotik anknüpfen wollen, nur kleinmütige Nostalgie verraten. Ein Mißklang neben den wenigen erhaltenen Originalen also, wo Harmonie — wenn sie denn sein soll — in einem Kontrapunkt der Schattnerschen Art zu gewinnen gewesen wäre.

Doch Baumbach fürchtet anders um sein Werk: Der in der Nachbarschaft eingezogene Kaufhof wolle es abreißen, um sich auch auf diesem Grundstück breitzumachen. Nicht sehr wahrscheinlich, daß das geschieht. Auch bei einem möglicherweise wirklich drohenden Innenumbau der heutigen Gastronomie- und Wohnräume des Fünfgibeldenkmals bliebe die so sehr gepflegte Fassade ganz gewiß imagefördernd erhalten. Alles andere widerspräche zumindest gründlich den Erfahrungen der letzten Jahre. Darüber jedoch, über das bloß Kulissenhafte seines Baus, mochte Baumbach nicht nachdenken. Vielmehr brach sich ein seltsam subalterner Mut der Verzweiflung eine entlarvende Bahn, der Satz gehört wörtlich zitiert: „Nein, ich darf das nicht sagen, soll ich doch? Ja also, gut: Was Honnecker nicht geschaft hat, das schafft nun der Westen!“

Bei derart lautstarker Verkennung tatsächlich leidvoller, kapitalistischer Realität platzte nun auch dem stillen Roger Diener der Kragen. Er sei nicht mehr bereit, die ewige Opferrolle der Ostarchitekten zu akzeptieren, jeder von ihnen habe mehr bauen dürfen als er, Diener, je hoffen könne. Und erst jetzt, im Zorn, war nun von der Architektur, nicht bloß vom Stigma der Platten die Rede. Diener verwies auf die Bilder von Rohbauten, die Wulf Brandstädter in ganz anderer Absicht gezeigt hatte. Eine modulare Struktur großer Schönheit sei da zu sehen gewesen, rief Diener in den Saal — „und was habt ihr daraus gemacht?“

Allgemein sein

Diese Frage, die wohl wichtigste, blieb erst recht ohne Antwort. Diener hatte schon am ersten Tag des Kongresses seine vielgelobten, unter den Anwohnern aber auch umstrittenen Miethäuser in Basel-Albistal vorgestellt. Sie entstammen einem radikalen Programm, das die Architektur um eben das bringen will, was ihr hüben und drüben immer noch das liebste ist: um ihren symbolischen Charakter. „Gebäude müssen allgemein sein“, lautet einer der bestürzend schlichten Grundsätze, Bestand haben könne nämlich nur, was sich als Form selbst genügt. Ein Diapositiv zeigt ein vierteiliges Fenster, dessen Gesamtumriß absolut symmetrisch in einer nahezu quadratische Zimmerwand steht. Es fällt schwer, irgend etwas daran zu loben oder zu tadeln, ein Fester wie jedes beliebige andere auch, und Diener sagt: „Wir haben sehr lange daran gearbeitet, ich glaube, diese Lösung ist gut.“ Daß die Entwürfe seines Basler Büros manchen Industriebauten von der Stange täuschend ähnlich sehen, stört ihn nicht. Mit seiner Hilfe läßt sich auch diese Architektur buchstabieren, vielleicht bleibt nichts anderes übrig im Angesicht der sozialistischen Erblast: Eine Tür, eine Treppe, ein Fenster, eine Wand, ein Dach: so werden auch Plattenbauten „lesbar“, wie es im Jargon heißt. Was ihnen fehlt, ist kein neues Symbol, das sie rechtfertigen oder verdammen könnte, sondern ein bißchen Pflege, denn, sagt Diener, „es gibt keine bedeutungslose Architektur“.

Das hätte ein Fazit für sinnvolle Anschlußdiskussionen nach dem Kongreß werden können. Der aber hatte mit Dieners sprödem Vortrag ja gerade erst begonnen. So waren die Frustrationen des Tages wohl unvermeidlich.

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