Die Rückkehr des Milchgesichts

■ Stephen Roche demonstriert auf der 7. Etappe der Tour de France alte Stärke und erschreckt seinen Boß Claudio Chiappucci/ Greg LeMond inzwischen ausgeschlafen/ Pascal Lino weiter in gelb

Berlin (taz) — „Ich mache alles dafür, daß Claudio in Paris vor mir plaziert ist, möglichst im gelben Trikot“, versprach Stephen Roche aus Irland nach der 7. Etappe der 79. Tour de France mit treuherzigem Aufschlag seiner strahlend blauen Augen. Doch besagtem Claudio dürfte bei diesen Worten nicht ganz wohl in seiner Haut sein. Zu gut erinnert er sich vermutlich noch an den Giro d'Italia von 1987. Damals war Claudio Chiappucci ein simpler Wasserträger im italienischen Carrera-Team, als der sanfte Ire mit dem Milchgesicht („Sein Babyface und sein merkwürdiger Akzent faszinierten mich“, erinnert sich Ehefrau Lydia an die erste Begegnung) mit einem veritablen Königsmord sein größtes Jahr einleitete.

Noch eine Woche vor dem Ziel hatte Carrera-Boß Roberto Visentini mit drei Minuten Vorsprung den Giro angeführt, als Roche plötzlich gegen alle Gesetze des Radsports eine Schwäche seines Chefs ausnutzte, sich an die Spitze setzte und die Italien-Rundfahrt für sich entschied. Während Visentini entnervt aufgab und in der Versenkung verschwand, wurde Roche in Italien als „Meuchelmörder“ gescholten und von seinen Teamkollegen gemieden, was ihn aber nicht hinderte, im selben Jahr noch die Tour de France und die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Italien mußte er allerdings verlassen, und erst zu Beginn dieser Saison war so viel Gras über die Sache gewachsen, daß er zu Carrera zurückkehren konnte — diesmal als designierter Helfer des zum Kapitän aufgestiegenen Chiappucci.

Nach 1987 hatte der inzwischen 32jährige Ire unter verschiedenen Verletzungen gelitten und nur von sich reden gemacht, als er bei der letzten Tour zu spät zum Mannschaftszeitfahren kam, weil er zu lange auf der Toilette geweilt hatte. Auf der 7. Etappe der Tour '92 von Brüssel ins niederländische Valkenburg feierte er nun ein großes Comeback.

Bayern-München-Doktor Müller-Wohlfahrt war extra angereist, um Roche sein immer noch lädiertes Kreuz zu richten, und solchermaßen instandgesetzt fuhr der Ire kraftvoll und dynamisch wie in seinen besten Zeiten. 40 Kilometer vor dem Ziel inszenierte er einen Ausreißversuch, ging immer wieder an die Spitze und verschärfte das Tempo, bis ihm schließlich nur noch drei Fahrer folgen konnten. Am Ende mußte er zwar dem Franzosen Gilles Delion den Vortritt lassen, schob sich im Gesamtklassement aber auf den vierten Rang vor, direkt hinter Claudio Chiappucci.

Der hatte bereits tags zuvor seinen Coup gelandet. Chiappucci bildet derzeit eine gegen die Favoriten Gianni Bugno und Miguel Induráin gerichtete Zweckgemeinschaft mit seinem alten Rivalen Greg LeMond (USA). Schon 22 Kilometer nach dem Start der 6. Etappe von Roubaix nach Brüssel hatten die beiden einen Ausreißversuch lanciert, dann jedoch entschieden, daß es dafür zu früh sei. Sie wiederholten ihr Experiment 22 Kilometer vor dem Ziel und hatten erstaunlicherweise Erfolg. Weder das Team von Bugno, noch das von Induráin reagierte, und im Handumdrehen hatte die vierköpfige Gruppe, in der Chiappucci und LeMond fast die ganze Führungsarbeit leisteten, über eine Minute Vorsprung, während das Feld durch einen Massensturz, bei dem sich der Deutsche Falk Boden den Mittelhandknochen brach, behindert wurde.

„Ich fühle mich viel stärker“, sagte der wegen Übermüdung schwach in die Tour gestartete LeMond. Zum ersten Mal sei er richtig ausgeschlafen gewesen. Den Etappensieg mußte der Amerikaner allerdings dem Franzosen Jalabert überlassen, was ihn nicht gar zu sehr wurmte. „Ich hätte gern gewonnen, aber so nehme ich eben die Zeit.“ Das waren fast anderthalb Minuten vor Induráin und Bugno, damit ist der dreifache Toursieger hinter Chiappucci und Roche Dritter jener Fahrer, die Chancen auf den Gesamtsieg haben.

Der turbulente Verlauf der beiden Etappen durch Belgien und die Niederlande, die eigentlich eher zum Ausruhen konzipiert waren, hat gezeigt, daß offenbar kein Team in der Lage oder willens ist, diese Tour zu kontrollieren und erfolgreiche Angriffe auch hochkarätiger Fahrer zu verhindern. Bugno und Induráin setzen auf die Alpen, die am 18. Juli erreicht werden, und vor allem auf die Einzelzeitfahren, deren erstes, über 65 Kilometer, heute in Luxemburg stattfindet. Stunde der Wahrheit für Bugno und Induráin, aber auch für Claudio Chiappucci. 37 Sekunden betrug nach der 7. Etappe dessen Vorsprung vor seinem treuherzigen Helfer Stephen Roche — an guten Tagen ein exzellenter Zeitfahrer. Matti Lieske

7. Etappe: Brüssel - Valkenburg (196,5 km): 1. Gilles Delion (Frankreich) 4:21:47 Stunden; 2. Stephen Roche (Irland); 3. Rolf Jaermann (Schweiz), alle gleiche Zeit; 4. Valerio Tebaldi (Italien) 8 Sekunden zurück; 5. Massimo Ghirotto (Italien) 1:00 Minute zurück; 6. Dimitri Konyshew (Rußland) 1:00 ... 9. Olaf Ludwig (Gera) 1:05

Gesamtwertung: 1. Pascal Lino (Frankreich) 30:45:45 Stunden; 2. Steve Bauer (Kanada) 3:11 Minuten zurück; 3. Claudio Chiappucci (Italien) 3:34; 4. Roche 4:11; 5. Richard Virenque (Frankreich) 4:15; 6. Greg LeMond (USA) 4:29; 7. Heppner 4:37; 8. Tebaldi 4:51; 9. Gianni Bugno (Italien) 5:06; 10. Miguel Induráin (Spanien) 5:33 ... 34. Ampler 8:32

6. Etappe: Roubaix - Brüssel (167 km): 1. Laurent Jalabert (Frankreich) 3:37:06 Stunden; 2. Claudio Chiappucci (Italien; 3. Brian Holm (Dänemark; 4. Greg LeMond (USA) alle gleiche Zeit; 5. Johan Museeuw (Belgien) 1:22 Minuten zurück;