Nichts vergessen, nichts gelernt

Offiziell wurde der schlagkräftige sowjetische Schnüffelservice KGB längst liquidiert und umbenannt/ Dafür spielen jetzt Spitzelkader von gestern wieder Detektiv — nach undurchschaubaren ureigenen Gesetzen  ■ VON BARBARA KERNECK

Eigentlich sollte mich in der letzten Märzwoche mein alter Freund Boris vom St.Petersburger Flughafen abholen. Wie es alte Freunde manchmal so an sich haben, ist er nicht mehr der Jüngste; einige Jährchen hat er im sowjetischen Gulag abgesessen. Nun ist er Vorsitzender der Kommission für Rechtsfragen der St. Petersburger Gesellschaft „Memorial“ — des Zusammenschlusses der politisch Verfolgten der Ex-UdSSR. In dieser Eigenschaft hatte er sich in letzter Zeit besonders mit den Aktivitäten der ehemaligen Angehörigen der Staatssicherheitsdienste in den nach dem August-Putsch vom vorigen Jahr gebildeten demokratischen Institutionen seiner Stadt beschäftigt.

Kurz vor meiner Abreise aus Moskau rief mich nun seine Tochter an: „Boris wird nicht kommen, er liegt im Krankenhaus: ein Überfall.“ Daß sein nächtlicher „Fall“ in einem St. Petersburger Hinterhof weder die Vorsilben „Zu-“ noch „Un-“ verdient, davon ist Boris zutiefst überzeugt: „Die Burschen, die mich schlugen, waren keine ,Jüngelchen‘. Sie sprachen dabei entgegen allen Gaunergewohnheiten kein einziges Wort. Sie schlugen stumm und gezielt auf den Kopf.“ Weder die ausländische Tragetasche des Memorial-Mitgliedes noch sein Geld, noch sein teurer Ledermantel wurden bei der Aktion angetastet. Boris, der auf dem einen Auge auch den strahlenden Juli noch immer nicht sehen kann, zieht sein Fazit: „Das Imperium schlägt zurück.“

Als das Sowjetimperium nach dem Putsch zerbröckelte, blieb ein anderes Reich fast unangetastet: die Pfründe der diversen Geheimdienste, die weiterhin nach ihren ureigensten Gesetzen leben. Daß der KGB als größter von ihnen beim Putsch treibende Kraft war, zu diesem Schluß kam die Kommission zur Untersuchung der Ursachen und Bedingungen für den Umsturz beim Präsidium des Obersten Sowjets Rußlands. Sie forderte künftig strikteste parlamentarische und juristische Kontrolle der Geheimdienste. Doch praktische Schritte in diese Richtung lassen auf sich warten. Auch die entsprechenden Paragraphen in der neuen russischen Verfassung sind noch nicht ausdiskutiert. Im Zusammenhang mit der Auflösung der UdSSR wurde ein großer Teil des offiziell liquidierten KGB kurzerhand umbenannt in: „Ministerium für die Sicherheit Rußlands“ — und eben seitens jener Behörde erfuhr die genannte Untersuchungskommission wachsenden Widerstand. Ihr Vorsitzender Ljew Ponomarjow klagte im Februar in der 'Iswestija‘: „Wenn das Parlament wirklich zur Kontrolle der Geheimdienste entschlossen wäre, befänden sich die Abgeordneten nicht in der albernen Situation, ständig darüber nachzurätseln, ob sie nun abgehört werden oder nicht!“ Eine andere Aussage Ponomarjows läßt daran zweifeln, ob bei den Deputierten lediglich Unentschlossenheit im Spiel ist: der Kommission gelang es frühzeitig, die Kartei aller KGB- Agenten seit Bestehen der Organisation zu versiegeln. Und um festzustellen, wer von den russischen Abgeordneten dazugehörte, so Ponomarjow, bedürfe es nur der Erlaubnis durch ein entsprechendes Gesetz.

Ganz offen wurden zahlreiche Mitarbeiter der ehemaligen und heutigen Staatssicherheitsorgane in das St. Petersburger Stadtparlament gewählt und bekleiden im Bürgermeisteramt und der Stadtverwaltung der heimlichen russischen Hauptstadt hohe Posten. Im Amt des Bürgermeisters Anatoli Sobtschak, einst Star der demokratischen Opposition, fungiert der in eben jenen Kreisen einst besonders verhaßte Ex-KGB-Hauptmann Putin heute als Leiter der Außenhandelsabteilung. Der erste Mann im Bezirksamt des großen und industriell bedeutenden Stadtteils Petrograd — einst hieß er Korschunow, heute nennt er sich Koschelev— hatte sich seinerzeit als Mitarbeiter des KGB auf die Schließung von Kunstausstellungen spezialisiert und brachte so manchen Maler hinter Gitter.

Die neue Karriere der alten Mitglieder einer Organisation, der einige der schrecklichsten Verbrechen gegen die Menschheit zuzuschreiben sind, erklärt der Vorsitzende der Kommission für Massenkommunikationsmittel des St. Petersburger Stadtsowjets, Juri Wdowin, folgendermaßen: „Die Kandidaten aus den Reihen der Staatssicherheitsorgane haben sich bei den letzten Wahlen auf Bezirks-, Kreis- und Stadtebene eben nicht in erster Linie als solche dargestellt, sondern als gestandene Polizeioffiziere, Untersuchungsrichter und Staatsanwälte, als gute Spezialisten im technokratischen Sinne. Ihre Aktionen waren besser aufeinander abgestimmt als die der demokratischen Kandidaten. Ungeachtet aller Schrecken, die unser Volk durch diese Organisation erlitten hat, umgibt immer noch eine gewisse revolutionäre Romantik unsere großartigen Spione. Gerade einfache Menschen neigen zu dem Glauben, daß die Organe als solche edel und gut waren und daß nur einige böse Menschen in ihnen eine schlimme Rolle gespielt haben.

Wenn so viele Ex-KGBler in der Stadt aus dem Parlament in die Exekutive weiter vorrückten, so liegt dies auch an einer biographischen Besonderheit unseres Bürgermeisters. Anatoli Sobtschak stellt sich in der Öffentlichkeit gern als liberaler Juraprofessor dar, und das war er ja auch. Wenn man sich aber einmal näher anguckt, worin seine Lehrtätigkeit bestand, so handelte es sich dabei hauptsächlich um Fortbildungsseminare für Untersuchungsrichter der Staatssicherheitsorgane. Und auf wen wohl wird sich ein Mensch stützen, wenn er plötzlich an die Macht kommt und im Galopp — ohne anzuhalten — eine Mannschaft formieren muß: doch am ehesten auf seine eigenen Schüler.“

Wie zur Illustration macht mich Wdowin mit Valeri Aksakow bekannt, Deputierter des Stadtsowjets und Untersuchungsrichter — ehemals des KGB, heute der St. Petersburger Filiale des „Ministeriums für die Sicherheit Rußlands“. Dessen Gegenkandidat bei den Wahlen war ein, wie er selbst es ausdrückt, „sehr liebenswerter, aber noch etwas unerfahren wirkender“ Vertreter der Grünen der Stadt. Aksakow chauffiert mich zu meinen etwas außerhalb wohnenden Bekannten und betont dabei, daß er sein ganzes Leben lang nur Verbrechen bekämpft habe und mit Spionage im eigentlichen Sinne nie in Berührung gekommen sei. Trotzdem stelle ich als Ausländerin ihm die Frage, warum sich mir Mitarbeiter dieser Organisation über die Jahre hinweg immer wieder betont aufdringlich und tölpelhaft näherten. Da nimmt der Untersuchungsrichter zu angeblichen Kaderschwierigkeiten Zuflucht: „Ja“, meint er ratlos, „wo soll man denn auch die Leute hernehmen?“ Daß der KGB als Kern des totalitären Staates, an dem niemand vorbeikam, durch paranoide Desinformationskampagnen die ganze sowjetische Gesellschaft in den Wahnsinn getrieben habe — das sieht er so nicht. Auch die Geschichte mit den von der Organisation begangenen Morden werde heutzutage maßlos übertrieben. Gegen solche Verleumdungen, meint der Deputierte, sei er nun schon abgehärtet. Nur daß er in die Kommission für Familie und Gesundheit des Stadtsowjets gewählt worden sei und nicht, wie er es selbst anstrebte, in die Justizkommission, wo er doch mit seiner Erfahrung viel nützlicher sein könne: das habe ihn schon geschmerzt. Boris, dem sein Auge auch immer noch weh tut, charakterisiert eine solche Haltung mit dem Kommentar: „Nichts vergessen und nichts gelernt!“ Gerade daß sich die Mitarbeiter des neuen Ministeriums nun ihres edlen Einsatzes gegen Verbrecher und Schmuggler rühmten, meint er, dies zeige, daß sie sich noch immer für alles und jedes zuständig fühlten. Boris fordert eine klare Aufgabentrennung zwischen Staatssicherheitsdiensten, Miliz und Zoll.

Eine Veröffentlichung von Listen nicht hauptamtlicher ehemaliger KGB-Zuträger und -Spitzel hält er allerdings für nicht angebracht. Sogar Juri Wdowin, der im Stadtparlament nicht müde wird, die Genossen von der „Firma“ an ihre Vergangenheit zu erinnern, macht hier halt: „Die Folge wäre ein Chaos, unter dem der dünne Boden des Friedens und der Demokratie in unserer Gesellschaft endgültig zerbräche. Manch einer hat in Momenten der Schwäche oder Verzweiflung — in die Enge getrieben — Spitzeldienste geleistet. Wir müssen jetzt auch psychisch gesunden und uns nicht gegenseitig noch mehr kaputtmachen. Die wirklich zu einer Umgestaltung entschlossenen Politiker in der Newa-Metropole, meint er, seien ohnehin nur eine Handvoll: „Die Leute aus den Staatssicherheitsorganen, im Stadtsowjet und in der Verwaltung, haben heute schon die reale Macht. Sie sind ganz und gar darauf eingestellt, die alten Strukturen wieder zu gebären, weil sie in den neuen zu wenig Luft zum Atmen bekommen. Aus diesen Umständen können Sie schließen, welche Rolle die im Falle eines neuen Putsches spielen würden!“