: Madrid, seine Geräusche und sein Lärm
Die Rufen des Scherenschleifers und das Murmeln der Kinobesucher gehen im Krach des Verkehrs unter ■ Aus Madrid Antje Bauer
Morgens, wenn die Autolawine sich bereits über die Stadt ergossen hat und die Eisengitter vor den Läden ratternd hochgezogen wurden, kommt der Alteisensammler. „Chatarre- eero!“ ruft er gedehnt, während er schnellen Schrittes durch die Straßen eilt, in Erwartung eines ausgedienten Bügeleisens oder eines ausgleierten Bettgestells. Bald darauf ist häufig die Flöte des Scherenschleifers zu hören, der auf einem alten Fahrrad daherkommt. Den runden Schleifstein schließt er an das Fahrrad an und wetzt die ihm zugebrachten Küchenmesser gleich in einer Parklücke, bevor er erneut seinen Rattenfängerruf ausstößt. Sie müssen abseits der großen Straßen arbeiten, diese Überbleibsel der alten Berufe, um nicht vom kontinuierlichen Lärm der Autos übertönt zu werden.
An den Ecken der Madrider Innenstadt stehen Blinde und preisen Lotterie an: „Loteria de la Suerte“, Glückslotterie, rufen sie gedehnt, oder „Sale hoy!“ — Ziehung heute! In der Nähe der U-Bahn-Eingänge machen ihnen ambulante Verkäufer Konkurrenz: „2 Fächer 100 Peseten“, heißt der Ruf für das unentbehrliche Abkühlungsmittel (Made in Taiwan) des Madrider Sommers. Aus Kneipen dringt das mechanische Gedudel der Spielautomaten, die ab und zu auf sich aufmerksam machen; in Käfigen, die auf von Blumen überquellenden Balkons hängen, singen Vögel.
Um zwei schwillt der Autolärm an — wer immer kann, fährt zum Mittagessen nach Haus. Aus Küchenfenstern dringt das rhythmische Schlagen von Eiern für die unentbehrliche Tortilla, bald darauf legt sich eine gnädige Stille über die ausgestorbene Stadt, nur unterbrochen vom Tellerklappern und Stimmengewirr aus den Restaurants mit preisgünstigen Mittagsmenüs. Gegen fünf erwacht Madrid — und mit ihm seine Autofahrer — aus der Siesta.
Auf der autofreien mittelalterlichen Plaza Mayor klampfen Gitarrenspieler vor Touristen zum 100.000. Mal Meister Rodrigos Aranjuez, im Retiropark scheuchen Wächter mit Trillerpfeifen Liebespärchen von den Rasenflächen, in der Marques-de-Cubas-Straße versuchen zwanzig Autofahrer, einen Stau auseinanderzuhupen. In einer Nebenstraße spielt ein Zigeunerjunge auf einem elektrischen Klavier, begleitet von seinem trompetenden Vater, während sich eine Ziege auf einem handtellergroßen Podest dreht.
Gegen halb neun rattern die Eisengitter wieder herunter. Freilich ist das kaum zu hören, denn die Autos sind in einen wahren Fahr- und Huprausch verfallen, der die Stadt mit Lärm und Gestank überdeckt. Danach wird es für ein paar Stunden ruhiger. Auf einem Bürgersteig spielt ein alter Mann Saxophon. „Spiele auf Ihren Festen, habe eigenes Orchester“, verrät ein Schild an seinem aufgeklappten Koffer.
Aus den Kneipen dringt erneut verstärkt Gläsergeklirr — es ist Zeit der Tapas, der Häppchen zum Aperitiv. Vor den Kinos bilden die langen Warteschlangen Murmelzonen, aus den offenen Türen schummriger Diskos stampft Musik. Die Straßen füllen sich nun mit den Stimmen der Spaziergänger mit Hund, der Cafébesucher in ihren Stühlen auf dem Bürgersteig, der tratschenden Nachbarinnen und dealenden Junkies. An verschiedenen Orten der Stadt knäulen sich am Wochenende um diese Zeit Tausende Jugendliche, singen, gackern, prahlen. Auf der Prachtavenue, der Castellana, sitzen in einer Fußgängerzone inmitten achtspuriger Fahrbahnen Cafébesucher im Freien und lassen sich vom Motorenlärm und der Cafémusik stereo berieseln.
Nachts um zwei, wenn Theater und Kino aus sind und man ein letztes Weinchen getrunken hat, entfaltet der Verkehr ein letztes Crescendo. Staus an allen einschlägigen Punkten der Stadt übertönen Cafémusik und Spielautomaten. Eine halbe Stunde später versinkt die Stadt in Schlaf. Über das Kopfsteinpflaster der engen Straßen der Altstadt rumpelt die Müllabfuhr, normalerweise gefolgt von den Straßenfegern, die im fahlen Licht der Laternen mit dickem Wasserstrahl den Asphalt säubern. Das einlullende Geräusch des Wassers fehlt den Madrilenen freilich zur Zeit: Wegen der Dürre müssen die Straßen trocken geputzt werden. Dann ist Ruhe. Bis sich morgens erneut die Autolawine über Madrid ergießt.
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