Italien: Kinderfrohn wie im Mittelalter

Scharen von Kindern werden zu frühem Gelderwerb gepreßt/Politiker lenken von dem Skandal ab  ■ Aus Rom Werner Raith

Was sollen wir“, fragt der Polizist an der Kreuzung Viale Cristoforo Colombo in Rom, „das Alter der Kinder da überprüfen?“ Er versteht überhaupt nicht, was unser englischer Kollege von ihm will. „Die stehen doch jeden Tag da und verkaufen Taschentücher und Feuerzeuge.“ Womit seiner Meinung nach die Unbedenklichkeit ihrer Beschäftigung hinreichend nachgewiesen ist. Noch merkwürdiger erscheint ihm die Frage, wieso die höchstens neun oder zehn Jahre alten Kinder am hellichten Vormittag, während der Schulzeit also, an dieser Stelle sein können. „Vielleicht sind sie krank gemeldet, vielleicht müssen sie gar nicht zur Schule. Mich geht das nichts an, solange sie den Verkehr nicht stören."

Unbehaglich ist dem Stadtpolizisten mit Fortgang der Diskussion schon zumute. Daß er sich Meriten holen könne, weil er einen eklatanten Fall von Kinderarbeit denunziert hat, zumal die zwischen den Autos hin- und herwieselnden Kleinen sowohl unfall- wie gesundheitsgefährdet sind, glaubt er jedoch nicht: „Das ist doch ganz normal“, meint er und flieht in die Straßenmitte, um den Verkehr zu regeln: „Arbeit schadet Kindern doch nicht.“

Natürlich ist Kinderarbeit in Italien verboten; und natürlich wissen das Eltern wie Arbeitgeber ganz genau. „Was man halt so Arbeiten nennt“, meint Ugo von der Reparaturwerkstatt in Borgo Hermada, als ich ihn auf die Beschäftigung eines Klassenkameraden unserer zwölfjährigen Xenia anspreche, „er schaut halt ein wenig zu, wie wir werkeln, mehr nicht.“ Dafür sieht der arme Feudo am Abend aber sehr öl- und fettverschmiert aus, wenn er heimkommt. „Kaffee holen und Kopien ordnen“, beschreibt ein Steuerberater die Tätigkeit eines nicht einmal halbwüchsigen, dickbebrillten Mädchens in seinem Büro — am augenschädigenden Computerbildschirm, wo er sie gerade für einen Diskettenfehler gescholten hat, sei sie angeblich „überhaupt nicht eingesetzt“.

Einige Kilometer vor Rom, nahe der Via Appia, hütet Giacomo Schafe — an die vierhundert Stück. Das ist ein Wert, „den man nicht unbeobachtet lassen darf“, wie der Herdeneigner, Sohn eines Großbauern aus der Ciocciara bemerkt. Giacomo gehört zu jenen — nach Jugendamtsschätzungen — vier- bis fünftausend Jungen im Alter von acht bis zwölf Jahren, die alljährlich trotz mittlerweile strenger Kontrollen auf den verschiedenen „Märkten der kurzen Hosen“ von ihren Eltern gegen Bezahlung vermietet werden. In einzelnen Städten wie Altamura im oberen Apulien hat dieser Kindermarkt solche Berühmtheit erlangt, daß sogar Fremde zum Fototermin anrücken, wenn um Ostern herum die Kleinen verhökert werden.

Daß Behörden und Politiker über all das hinwegsehen, hat einen einfachen Grund: ein Teil der italienischen Volkswirtschaft, vor allem die ohnehin schwachen Klein- und Familienbetriebe, würden ohne Einsatz des eigenen Nachwuchs faktisch nicht überleben. Das wäre volkswirtschaftlich zwar noch zu verkraften — die einschlägigen Unternehmen machen heute kaum mehr zwei Prozent des Bruttosozialproduktes aus —, nicht aber politisch: Die kinderreichen Familien könnten zu Protestwählern werden, so wird argumentiert; außenpolitisch könnte sich ein Skandal daraus entwickeln, der sich mehr auf die schlechte Behandlung der armen Kleinbetriebe konzentrieren würde als auf die Durchsetzung der Kinderschutzgesetze.

Doch im Fahrwasser dieser Begründung schwimmen jene mit, deren Anteil am Sozialprodukt bedeutend größer ist: die mittelständischen Unternehmen und Dienstleistungsbetriebe, vor allem aber auch die Welt der halbseidenen Geschäfte. Im mittlerweile halbindustrialisierten Agrarsektor findet man Halbwüchsige in Massen eingesetzt, ebenso in den Autowerkstätten oder bei der Herstellung von Kisten, Kartonagen und Versandmaterial. Kaum einmal nimmt die Finanzpolizei routinemäßige Kontrollen auf Fischkuttern vor, ohne auf Kinder und Halbwüchsige zu stoßen, die unter Deck schwere körperliche Arbeit an den Maschinen oder in der Umschichtung des Fanges leisten. Nach Ansicht des Sozialarbeiterverbandes in Neapel fällt gut ein Viertel der nichtqualifizierten Arbeit in der Region Kampanien unter die von den Jugendschutzgesetzen verbotenen Tätigkeiten.

Dazu kommt eine geradezu horrende Steigerung der Ausbeutung: die Beschäftigung in kriminellen Banden — und das nicht nur beim Verkauf geschmuggelter Zigaretten oder bei der Hehlerei geklauten Gutes, bei der Vermittlung von Prostituierten (oft sind es die eigenen Schwestern) oder im Rauschgifthandel. Camorristische Gangs kaufen Kinder, vor allem von „Nomaden“ aus dem ehemaligen Ostblock, die sie zu Taschendieben und Straßenräubern ausbilden und außerhalb der „Arbeitszeit“ oft unter sklavenähnlichen Bedingungen in abgeschlossenen Verliesen, Erdhöhlen oder Hinterzimmern festhalten. Außerdem werden Kinder zunehmend — eine Erfindung des Chefs der „Nuova Camorra Organizzata“, Raffaelle Cutolo — auch als Killer verwendet: zwölf- bis vierzehnjährige Pistoleros, die mit sechs oder sieben Jahren als Taschendiebe angefangen haben und zügig den Weg in eine der großen Banden gefunden haben. Eine Lücke im italienischen Gesetz verbietet die Haftbarmachung der Eltern für die Straftaten der Kinder; die Eltern bekommen die Summe für den Pistoleneinsatz (zwischen 100.000 Lire (rund 135 Mark) für eine Einschüchterung oder 600.000, für einen Mord von einem Sendboten des Bosses ausgehändigt, ohne daß jemand dagegen vorzugehen vermag.

Für wie selbstverständlich die Italiener Kinderarbeit zumindest in legalen Sektoren halten, zeigt sich immer wieder, wenn es zu bösen Unfällen kommt. So explodierte am 18.Mai im oberitalienischen Rovigo eine Fabrik für Feuerwerkskörper; neben mehreren Dutzend Verletzten zogen die Feuerwehrleute zwei Tote aus qualmenden Ruinen, darunter einen dreizehnjährigen Jungen. Es dauerte Tage, bis die von den Medien ganz selbstverständlich angenommene Vermutung ausgeräumt war, der Junge sei dort beschäftigt gewesen. Tatsächlich war er ein Verwandter des Fabrikbesitzers, nur hineingelassen, um zu sehen, wie man Knallkörper herstellt.