„...und meiner Frau hab' ich auch verboten, dahin zu gehen“

■ Die Gründung der „Komitees für Gerechtigkeit“ löst in Thüringen ganz unterschiedliche Gefühle aus, Ratlosigkeit und Gleichgültigkeit sind gleichermaßen groß: Einige wollen vom Diestel-Gysi-Projekt noch nichts gehört haben, manche haben Angst vor einem „erneuten großen Beschiß“, die meisten wittern jedoch alte Seilschaften

„Zu einer Sammlung gehört immer auch sammeln“, erklärt Knappschaftsinvalide Gustav Birkenbach aus Mühlhausen. „Von mir aus können die mit zehn Sammelbüchsen oder gar Hüten vor dem Haus stehen. Ich gebe grundsätzlich gar nichts mehr. Wir sind schon genug abgesammelt worden. Die wählen doch hundertprozentig als erstes wieder einen Vorstand, irgendein ZK oder Präsidium, und das muß erstmal finanziert werden. Aber nicht von mir. Der Diestel hat, vorsichtig geschätzt, 'ne Viertelmillion im Jahr. Gysi, als Parteichef, sicher nochmal soviel — aber Gustav, Gustav soll abgesammelt werden.“

Euphorisch Regina Bertram aus Arnstadt: „Der Diestel hat mir immer schon gefallen. Sieht ja auch aus wie Alain Delon. Vor dem zittert der Mops in Bonn natürlich wie Espenlaub. Diestel wäre ein Kanzler. Nein, gegen Gysi hab ich überhaupt nichts. Sind Ihnen dem seine Brombeeraugen schon aufgefallen? Und wenn Gysi jetzt mit Diestel eine neue Partei aufmachen will, hat er sicher eingesehn, daß die alte nichts taugt. Wir brauchen jemanden mit Gewicht, der denen da drüben das Fürchten lehrt.“

Barbara Steinmetz aus Eisenach: „Ich würde die auf der Stelle wählen. Ich will Ihnen mal sagen, was ich beim letzten Mal gewählt habe. Ne, lieber nicht. Meine Freunde würden mich erschlagen. Obwohl ich glaube, die haben auch alle CDU gewählt, damals. Tun heute aber so, als ob sie die schon immer durchschaut haben. Aber reden Sie bitte lieber nicht drüber. Ich versteh' mich nämlich heute selber nicht mehr.“

„Denen drüben muß endlich mal eine verpaßt werden“

Autobahn-Raststätte Hermsdorfer Kreuz. Zwei alte Leute. Tieftraurig und voller Haß der Mann: „Verlogen die einen wie die anderen. Unsere Tochter, ein hoffnungsvolles, liebes Mädchen, hat sich das Leben genommen. Sie hat sich so schuldig gefühlt, als Staatsbürgerkundelehrerin.“ „23 Jahre“, sagt die Frau. „Wie schuldig kann man da schon sein? Sie hat an den Sozialismus geglaubt.“ Trotzig: „Und wir glauben heut' noch dran. Von uns aus soll sich sammeln wer will. Es sind eh nicht solche, die man jetzt bräuchte.“ „Wen braucht man jetzt?“ Weinend: „Ehrliche, anständige Menschen, wie unsere Tochter.“

Max O., DSU-Mitglied aus Oberhof, spuckt theatralisch aus. „Ein Verein, in dem Gysi das Sagen hat? Mit mir nicht. Und meiner Frau habe ich auch verboten, dahin zu gehen.“ Die Nachbarin von Max, hinter ihrer Hainbuchenhecke, ruft plötzlich laut: „Früher hat er auf den Klassenfeind gespuckt, heute auf den Gysi. Eigentlich ein Grund, dem Verein beizutreten.“

Max aber zuckt erhaben die Schultern, dann vertraulich: „Unbelehrbar, die da drüben. Ist immer dagegen. Vor der Wende und danach. Und ich weiß, wovon ich rede. Das Gysi-Diestel-Projekt wird schon bald nicht mehr Komitee, sondern Zentralkomitee heißen.“

Eine Rentnerin in der Weimarer Fußgängerzone: „Früher bin ich für 1,70 nach Erfurt bummeln gefahren und konnte mir auch ein Stück Kuchen mit Kaffee leisten. Heute zahle ich neun Mark und für den Kuchen nochmal zehn. Das ist nicht mehr drin, bei meiner Rente. Wenn die das wieder so wie früher machen könnten, wäre ich dafür. Denen drüben muß endlich mal eine verpaßt werden. Wenn die Amerikaner uns besetzt hätten und die Russen die drüben, wäre alles anders herum gekommen.“

Die Ratlosigkeit ist überall in Thüringen gleichermaßen groß. Auch die Gleichgültigkeit. Viele der Befragten haben von dem Unternehmen „Gerechtigkeit“ überhaupt noch nichts gehört oder wollen nichts davon hören. Viel Resignation und Bitterkeit, aber auch die Furcht vor einem „erneuten großen Beschiß“. Drei alte Frauen auf der Erfurter Gartenbauausstellung. Angstvolle Warnung, den Kohl lieber nicht noch mehr zu reizen. „Das ist doch heute nicht anders als früher. Wenn man da was sagte, bekam man gleich noch schlechtere Briketts oder erst Wochen später, wenn der Winter vorüber war. Und die heute kürzen uns, aus Trotz wegen Diestel und Gysi, vielleicht die Rente wieder.“

Manche sehen die alte Connection wieder am Werke

Viel demagogische Argumente überall, aber auch sehr redliche und realistische. Der Thüringer Landtagspräsident, Gottfried Müller, ruft ironisch auf, nun auch zur Gründung einer Westpartei zu schreiten, die die Gräben noch mehr vertieft. Revolutionsrauschebart und Landtagsabgeordneter des Neuen Forum, Mathias Büchner, sieht die alte Connection, vor der er seit der Wende unaufhörlich warnt, wieder am Werk. Nun, im neuen Gewand und gefährlicher denn je. Gerade ist dem Stasi- Jäger wieder ein Vorderreifen seines Wagens geplatzt. Totalschaden. Henning Pawel