Wo soll er hin? — Gericht übernimmt Sozialarbeit

■ Ex-Junkie nach Raub zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt

Im März dieses Jahres hatte Anna P. eine unangenehme Begegnung mit einem jungen Mann. In der Bremer Innenstadt versuchte der 27jährige Wolfgang M., ihr die Einkaufstasche zu entreißen. Als die 70jährige ihr Eigentum erfolgreich verteidigt hatte, flüchtete Wolfgang M. Passanten stellten ihn, seitdem saß er in U-Haft.

Der 27jährige macht vor dem Schöffengericht keine Bemühungen, der Tatrekonstruktion Richter Rogolls zu widersprechen. Im Gegenteil: Er legt ein komplettes Geständnis ab. „Morgens um sechs hatte ich mir den letzten Schuß gesetzt, das war dann halt zwölf Stunden her“, erzählt er. Normalerweise hatte er keine Schwierigkeiten an Heroin zu kommen: Als Zwischendealer verfügte er stets und in ausreichender Menge über den Stoff. Doch Streit hielt ihn an diesem Tag von der Szene fern. Abends um sechs sah er keine andere Möglichkeit, an Geld für Heroin zu gelangen.

Seine Biographie klingt so klischeehaft, wie man es erwartet haben mag: Eltern Alkoholiker, mit sieben ins erste Heim gesteckt, eine Odyssee durch verschiedene Kinderheime endet in Bremen. Mit 16 wird er entlassen, mehrere Jahre als Lagerarbeiter über die Runden kommt, bevor er über Bekannte an die Nadel kommt. Innerhalb von nur zwei Jahren steigert er seine tägliche Dosis bis auf zwei Gramm.

In der Untersuchungshaft wird Wolfgang clean. „Der Entzug war hart“, sagt er vor Gericht.

Im Gericht liefern sich Verteidiger und Staatsanwalt keine großen Wortgefechte. Gefängnis erscheint niemandem als adäquate Antwort auf die Geschichte des Angeklagten. Statt dessen steht das Gericht vor Problemen organisatorischer Natur: Wo soll der Angeklagte bei einer Bewährungsstrafe hin? Sowohl Wohnung als auch Arbeit sind ihm gekündigt worden, als er an der Nadel hing. Aus dem U-Haftgefängnis heraus hat er selbst bereits bei „Hoppenbank e.V.“, einem Resozialisierungsverein, angefragt, um die Zeit bis zu einer möglichen Therapie, die er auf jeden Fall will, zu überbrücken.

Staatsanwalt Keunecke will das bei der „Hoppenbank“ überprüfen, die Verhandlung wird unterbrochen. Eine knappe Stunde später kann Keunecke mitteilen, daß sich „Hoppenbank nach eindringlicher Schilderung der Lage bereit erklärt hat, Wolfgang M. aufzunehmen — allerdings erst nach Klärung der Kostenübernahme.“Ich habe gesagt, daß sich der Verteidiger mit der ganzen Autorität seines Amtes darum kümmern wird“, berichtet der Staatsanwalt.

„Gleich jetzt?“ fragt der Anwalt und macht sich sofort auf den Weg zum Telefon. Wieder Unterbrechung. Bürokratie in Höchstform: Sechs Wochen, so die Auskunft des Sozialamtes, könne die Entscheidung über eine Kostenübernahme dauern. Es müsse ein Bewährungshelfer benannt werden, dieser solle einen detaillierten Sozialbericht über den Angeklagten vorlegen, vorher sei nichts machbar.

Staatsanwalt, Verteidiger und Richter beraten gemeinsam die neue Lage. Nein, zurück in die Wohncontainer solle er natürlich nicht. Schließlich erklärt der Verteidiger, „ihn unter den Arm zu nehmen“ und sich zu Hause an die Schreibmaschine zu setzen, um der „Hoppenbank“ schriftlich mitzuteilen, daß er sich persönlich um eine Kostenübernahme durch das Sozialamt kümmern werde, damit Wolfgang M. möglichst schnell in einer Wohngemeinschaft des Vereins unterkomme. Dieser versichert, sich dann auch um eine Therapie zu bemühen.

Nach über drei Stunden dann das erwartete Urteil: Ein Jahr Freiheitstrafe auf drei Jahre Bewährung. Felix Kurz