EG-Minister im Gesetzesdschungel

Der Binnenmarkt ohne Grenzkontrollen könnte am Vorschriftenwirrwarr scheitern/ Wirtschafts- und Finanzminister versuchen erneut Steuern und Zollkontrollen ihrer Länder zu vereinheitlichen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Sechs Monate vor Beginn des Binnenmarkts macht sich die EG-Kommission Sorgen, ob vom 1.Januar 1993 an tatsächlich sämtliche Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft wegfallen werden. Schwierigkeiten gibt es nicht nur bei Personenkontrollen für EG-BürgerInnen, die zumindest die britische Regierung in bestimmten Bereichen beibehalten möchte und die es weiterhin an Flughäfen geben wird. Umstritten sind auch wichtige Aspekte bei der Angleichung der sehr unterschiedlichen Mehrwertsteuern, über die sich die Wirtschafts- und Finanzminister gestern erneut beraten haben.

Die EG-Kommission sieht in einheitlichen Mehrwertsteuersätzen eine Grundvoraussetzung für die Aufhebung der Grenzen. Noch nicht geregelt ist außerdem eine Vielzahl von Warenkontrollen. Zusammen mit den nationalen Zollbehörden hat die Kommission für die Minister eine Liste aller Grenzkontrollen erstellt, die von mehr als einem Mitgliedstaat angewandt werden. Über 500 haben sie in diesem noch nicht veröffentlichten Bericht zusammengetragen. Etwa 200 davon sind bereits oder werden gerade von den Mitgliedstaaten einseitig außer Kraft gesetzt. Bei dem größeren Rest gibt es wenig Fortschritte. Nach Ansicht der Kommission wird so der Übergang vom System nationaler Grenzkontrollen zum neuen Kontrollregime des Binnenmarkts erschwert.

Dies gilt nach Ansicht der Kommission um so mehr, als auch die notwendigen nationalen Umsetzungsvorschriften der Richtlinien noch nicht alle ausgearbeitet oder verabschiedet sind. In erster Linie muß die EG-Kommission noch einige Vorschläge formulieren, in zweiter Linie der EG-Ministerrat nacharbeiten, der erst acht von 21 einschlägigen Gesetzen verabschiedet hat. Zudem müssen die EG-Mitgliedstaaten in den noch ausstehenden Bereichen die Gemeinschaftsvorschriften in nationales Gesetz umsetzen.

Die Europamüdigkeit der Mitgliedstaaten wurde Anfang des Monats auch vom Europaparlament kritisiert: Vor kurzem sei erst ein Viertel der Binnenmarktregeln, die eigentlich schon in Kraft sein müßten, in allen zwölf Mitgliedstaaten rechtswirksam gewesen. Der für den Binnenmarkt zuständige EG-Kommissar, Martin Bangemann, behauptete dagegen, der Umsetzungsprozeß habe sich in den letzten Monaten erheblich beschleunigt. Dies gelte vor allem für den bisherigen Nachzügler Italien, das noch vor kurzem weniger als 50, inzwischen aber 77Prozent aller einschlägigen EG-Gesetze übernommen habe. Spitzenreiter sei Dänemark mit 92Prozent, Schlußlicht Belgien mit 69Prozent. Deutschland rangiere mit 75Prozent im Mittelfeld.

Problematisch sei allerdings noch immer die Aufhebung der Grenzkontrollen für bestimmte Waren. Dies, so der interne EG-Bericht, sei auf die große Verschiedenheit der angewandten Kontrollen, der Vielzahl der betroffenen Behörden und den Umstand zurückzuführen, daß diese ihre Vorschriften in sehr unterschiedlicher Weise an die neue Situation anpaßten. Besonders umstritten zwischen EG-Kommission und einigen Mitgliedstaaten ist dabei die Frage, ob einzelne Kontrollen an die Außengrenzen der EG verlegt werden sollen, oder ob sie überall in der Gemeinschaft erfolgen können. Letzteres bezeichnet die Kommission als ihren „neuen Ansatz“.

Danach sollen Kontrollen auf dem Markt erfolgen. Auf diese Weise soll garantiert werden, daß Importwaren aus Mitgliedstaaten oder auch aus Drittländern den EG-Standards entsprechen. Dabei geht es vor allem um technische Kontrollen, die alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Dänemark angewandt haben oder noch anwenden. Die Staaten wollen so sicherstellen, daß Produkte wie Funkgeräte, Meßinstrumente oder Fahrzeuge den nationalen technischen Standards entsprechen.

Große Schwierigkeiten gibt es auch bei der Abschaffung der Wirtschafts- und Handelskontrollen. Für Medikamente, chemische Substanzen und Lebensmittel, so die Kommission, gebe es zwar eine grundsätzliche Bereitschaft, die Grenzkontrollen aufzugeben. Allerdings werden zusätzliche Kontrollen an den Außengrenzen für die Ausgangsstoffe zur Drogen- oder Arzneimittelproduktion gefordert. Außerdem wollen einige Mitgliedstaaten, darunter die Bundesrepublik, Kontrollen für Asbest und jene Produkte beibehalten, die PCP enthalten.