: Der Run auf die Goebbels-Tagebücher
Britisches Massenblatt „Daily Mail“ gewann das Wettrennen um die Erstveröffentlichung unentdeckter Tagebücher von Hitlers Propagandaminister/ taz-Interview mit dem Leiter des Münchner „Instituts für Zeitgeschichte“, das dem Blatt das Material zur Verfügung stellte ■ Von Bernd Siegler
Das Rennen um die Erstveröffentlichung bislang unentdeckter Tagebücher von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels ist gelaufen. Das britische Massenblatt „Daily Mail“ hatte im Finish die Nase vorn, die „Sunday Times“ mußte sich mit dem undankbaren zweiten Platz begnügen. Der „Spiegel“ folgte abgeschlagen auf Rang drei.
Hinter den Kulissen hat damit das renommierte Münchner Institut für Zeitgeschichte dem rechtsextremen Historiker David Irving einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Historikern Fröhlich war auf der Suche nach dem kompletten Tagebuchsatz im März dieses Jahres im Moskauer Zentralen Staatsarchiv fündig geworden. Irving bekam Wind von der Sache und machte sich im Auftrag der „Sunday Times“ nach Moskau auf den Weg. Dort konnte er ebenfalls das Material durchsehen und kopieren. Er witterte die Chance, mit dem Tagebuch-Coup in der „Sunday Times“ seinen durch seine revisionistischen Aktivitäten in rechtsextremistischen Kreisen ramponierten Ruf aufzupolieren. Doch „Daily Mail“ war schneller. Das Münchner Institut stellte dem Blatt das Material zur Verfügung. „Keinesfalls ein Racheakt an Irving“, meint der Chef des Münchner Instituts Möller.
Von seiner Jugend an bis zum 29. April 1945, zwei Tage vor seinem Selbstmord, führte Goebbels ein detailliertes Tagebuch. Mit dem jetzt aufgefundenen kompletten Tagebuch-Satz wird zum Beispiel belegt, daß Hitler die Judenpogrome vom November 1938 nicht nur billigte, sondern zusätzlich anheizte. Nach Goebbels Darstellung war Hitler bereits im Herbst 1938, also knapp ein Jahr vor der Kriegserklärung durch England und Frankreich, zum Krieg bereit. Am Tag der Unterzeichnung des Münchner Abkommens (30.9.1938) notierte Goebbels: „Jetzt sind wir wieder eine Weltmacht. Von nun an heißt die Devise: Aufrüsten, Aufrüsten, Aufrüsten.“ Goebbels bislang unbekannte Einträge zum Röhm-Massaker 1934, zum Anschluß Österreichs an Nazi- Deutschland, zum Kriegseintritt gegen die USA oder zum mißlungenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, schließen die Lücken, die die bisher veröffentlichten Tagebücher noch aufgewiesen hatten.
Genau darin liegt für den „Spiegel“ der Wert der jetzt publizierten Tagebücher. Sie gäben zwar „einzigartige Aufschlüsse über das Innenleben der Nazi-Herrscher und die Innenausstattung der Nazi-Herrschaft“, die Geschichte des Dritten Reiches müsse deswegen aber „nicht umgeschrieben“ werden. Norman Stone, Professor für moderne Geschichte in Oxford, bezeichnete die Tagebücher als „das letzte wirklich wichtige Dokument, das aus dem Dritten Reich noch auftauchen konnte“. Er glaubt nicht, daß Goebbels in seinen Tagebüchern alles wahrheitsgetreu aufgeschrieben hat, sondern daß er vielmehr einiges absichtlich verfälscht hat.
"Eine historische Quelle wie andere auch"
Die taz sprach mit dem Leiter des -archivs für Zeitgeschichte in München, Dr. Werner Röder, über den historischen Wert der Goebbels-Tagebücher und den Medienrummel
taz: Welchen historischen Wert haben die neu aufgefundenen Goebbels Tagebücher?
Röder: Die Geschichte des 3. Reiches muß nicht neu geschrieben werden. Der Wert der Tagebuchaufzeichnungen liegt vor allem in historischen Details, die den Zeitgeschichtsforschern zu einigen Sachfragen zusätzliche Indizien für die Darstellung und Interpretation der Zeitgeschichte liefern können.
Der Propagandachef Goebbels wird sich wohl bei seinen Tagebuchaufzeichnungen nicht immer an die Wahrheit gehalten haben. Könnte das den Wert der Aufzeichnungen schmälern?
Die Tagebücher sind eine historische Quelle wie viele andere auch und sind mit dem entsprechenden kritischen Instrumentarium zu bewerten. Dazu zählt in erster Linie der Umstand, daß Goebbels sehr wahrscheinlich einen Großteil seiner Eintragungen für die Nachwelt verfaßt und damit eigene persönliche und politische Interessen verfolgt hat. Die Goebbels'schen Eintragungen müssen mit der gleichen Vorsicht geprüft, interpretiert und mit anderen Quellen verglichen werden wie etwa Berichte der Geheimen Staatspolizei über den Widerstand im 3. Reich.
Wie erwartet sind die Tagebücher zum Medienereignis geworden. Hat Ihr Institut dazu beigetragen?
Unser Institut hat ausschließlich wissenschaftliche Interessen im Sinn. Uns geht es darum, den überlieferten Gesamttext der Goebbels'schen Eintragungen der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Dies wird geschehen im Rahmen der geplanten Edition. Wir sind im Prinzip nicht daran interessiert, aus neu aufgefundenen Quellen irgendwelche Highlights zum wohlfeilen und schnellen Ge- und Verbrauch an Tagesmedien zu liefern. Das liegt außerhalb unseres Selbstverstädnisses.
Es ging aber doch ziemlich schnell, daß Ihr Institut dem Daily Mail gewisse Passagen zur Verfügung gestellt hat.
Wir haben dem Daily Mail diese Passagen nicht als Daily Mail zur Verfügung gestellt. Die Tagebücher sind im Sinne unserer allgemein geltenden Benutzungsordnung von einem anerkannten britischen Historiker und Politiologen, dem Professor Anthony Glees, hier im Hause eingesehen worden. Glees hat uns natürlich nicht verheimlicht, daß er beabsichtigt, die Ergebnisse seiner Recherchen im Daily Mail auszugsweise und mit einem bewertenden Kommentar zu veröffentlichen. Wir hatten in dieser Situation keinen Grund Herrn Glees diese Verwertung zu verweigern oder gar zu verbieten.
War ihnen die geplante Veröffentlichung von Sunday Times in Zusammenarbeit mit David Irving kurz darauf bekannt und kam es ihnen gelegen, dem zuvorzukommen?
Es wäre naiv, irgendjemanden Glauben machen zu wollen, daß die Benutzung unseres Archivs durch Prof. Glees und die bevorstehende Veröffentlichung der Irving'schen „Rechercheergebnisse“ völlig unverbindlich zeitlich zusammengetroffen seien. Wir haben es in dieser Situation nicht abgelehnt, auch einmal pädagogisch wirksam zu werden. Uns schien es angebracht, in diesem Falle dazu beizutragen, dem internationalen Dokumentenhausierhandel auf dem schwarzen Markt einen kleinen Strich durch die Rechnung zu machen. Und wenn wir durch diese Archivbenutzung diesen Dokumentenhändlern ein klein wenig die Preise und den Markt verdorben haben sollten, würde es mich persönlich sehr freuen.
Wollten Sie auch pädagogisch gezielt auf David Irving einwirken?
Ich will das nicht an einer Person festmachen. Es gibt Dokumentenhändler jedweder Nationalität, die vor allem seit den Veränderungen im Osten Europas immer wieder auftreten und angebliche Sensationen für viel Geld feilbieten. Das ist für die Zunft der ernsthaften Historker natürlich ein Ärgernis.
Wie hat Irving von Ihrem Fund erfahren?
Wir können nur spekulieren. Ich kann nicht ausschließen, daß er aufgrund eigener Recherchen fündig geworden ist.
Irving wollte mit den Tagebuchveröffentlichugnen sein angekratztes Image aufpolieren. Gibt es irgendwelche gemeinsamen Interessen zwischen ihm und dem Moskauer Staatsarchiv, daß man ihm dort Einsicht in die Tagebücher gewährt hatte?
Ich könnte mir vorstellen, daß die Moskauer Archivarskollegen über die Person David Irvings nicht ausreichend informiert gewesen sind. Unser Vertrag mit dem Staatlichen Archivkommitee schließt ja nicht aus, daß einzelne Wissenschaftler die Goebbels'schen Überlieferungen in Moskau einsehen und für wissenschaftliche Arbeiten verwenden. Daß war für die Archivleitung die Ausgangssituation. Wie Herr Irving nun die von ihm in den Westen gebrachten Kopien angefertigt hat, entzieht sich unserer Kenntnis.
Bei einem solchen Meidenereignis ist viel Geld im Spiel. Welche Summen sind geflossen?
Es gibt einen Schweizer Bankier der bisher rechtlich unbeanstandet den Anspruch erhebt im Besitz des Goebbels'schen Copyrights zu sein und Abdruckgenehmigungen erteilt für auszugsweise Veröffentlichungen aus den Goebbels'schen Werken. Aus der Presse wissen wir, wieviel Geld in der jetzigen Sommertheaterszenerie geflossen sind. 50.000 Mark hat Daily Mail gezahlt, ich nehme an daß eine erkleckliche Summe vom Spiegel für die Abdruckrechte geleistet worden ist. Die andere Seite ist die Honorierung von Irving durch Sunday Times und das deutsche Nachrichtenmagazin. In der englischen Presse ist in Bezug auf Irving und Sunday Times von einem Betrag von 80.000 Pfund die Rede.
Wieviel hat das Münchner Institut investiert?
Das Institut hat keine Zahlungen für die Reproduktion der Goebbels'schen Glasplattenüberlieferungen in Moskau geleistet. Ganz allgemein haben wir mit dem Staatlichen Kommitee für Archivangelegenheiten vereinbart, in Zukunft in gemeinsamen wissenschaftlich interessierenden Fragen zusammenzuarbeiten.
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