Muscheln liefern Alibi

■ Nach zehn Instanzen: Wiederaufnahmeverfahren im Fall Auer hat gestern begonnen/Anklage wegen Mord/Alibizeuge sagt Freitag aus

hat gestern begonnen / Anklage wegen Mord / Alibizeuge sagt Freitag aus

Ein ganzer Pulk von Juristen hat sich bereits mit dem Mordfall befaßt, der seit gestern vor dem Hamburger Landgericht neu aufgerollt wird. Der heute 38jährige Jürgen Auer soll im November 1982 gemeinsam mit einem italienischen Bekannten den Kaufmann Erhard Walther umgebracht haben. Ihr Versuch, den Tresor des Opfers zu leeren, schlug fehl. Auer und sein damals 21jähriger Freund flohen nach Italien und wurden in Mailand gefaßt. Der Italiener wanderte für 28 Jahre hinter Gitter.

Auer wurde in Hamburg 1984 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Dann begann der Weg durch die Instanzen. Der Bundesgerichtshof verwarf 1985 die Revision des Angeklagten. Hamburger Gerichte lehnten mehrere Wiederaufnahmegesuche ab, die Auers Anwalt, Strafverteidiger Gerhard Strate, formuliert hatte. Erst 1990 entschieden die Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe, die Geschichte müsse erneut verhandelt werden. Auer wurde gegen 20000 DM Kaution nach acht Jahren aus der Haft entlassen.

Im Mittelpunkt des erneuten Prozesses steht nun das Alibi, das der 38jährige, der vor seiner Inhaftierung als Kellner, Fotograf und Discjockey gearbeitet hatte, seit Jahren parat hält. Er will am Tatabend drei Portionen Muscheln aus einem Restaurant besorgt haben. Die Mahlzeit war für ihn, den Kaufmann und den italienischen Freund gedacht. Auer hat während des Wiederaufnahmeverfahrens immer wieder beteuert, sein Freund Francesco habe den Kaufmann in seiner Abwesenheit erschossen. Die Richter schenkten ihm keinen Glauben.

Aber es gibt einen Zeugen, der gesehen haben will, wie Auer in dem Restaurant auf die Muscheln wartete. Dieser mit Spannung erwartete Mann soll am Freitag im Prozeß seine Aussage machen.

Auer hatte in Mailand zunächst alle Schuld auf sich genommen. Um seinem Freund „etwas Gutes zu tun“ und weil er überzeugt war, bald an Magenkrebs zu sterben. Als sich der Krebs als fiktiv erwies, widerrief Auer das Geständnis und erklärte, sein Freund habe die tödlichen Schüsse auf den Kaufmann abgefeuert. Er selbst sei nur mit auf die Flucht gegangen, weil ihm nichts Besseres eingefallen sei. In Italien habe sein Freund ihm gedroht, ihn, den Mitwisser, umzubringen. Dann habe der es sich anders überlegt, und sie seien mit der Diners-Club-Karte des getöteten Kaufmanns in der Tasche in Rom durch die Geschäfte gezogen. Bei der Festnahme soll die italienische Polizei seinem Freund angeboten haben, den Mordfall in Deutschland zu vergessen, wenn er sich als Lockvogel in der Drogenfahndung verdinge. Aus dem Deal sei jedoch nichts geworden.

Auer wurde nach Hamburg überstellt. Strafverteidiger Gerhard Strate und Richter Dr. Erdmann kämpfen nun mit der angespannten Atmosphäre im Saal, in dem völlig unvoreingenommen gegen einen vor dem Gesetz unschuldigen Mann verhandelt werden soll, auf dessen Geschichte sich die Justiz seit zehn Jahren einen Reim zu machen versucht. Lisa Schönemann