44 Pfennige aus dem Anti-Armut-Programm

50 Millionen EG-BürgerInnen sind arm/ Die Gemeinschaft produziert Langzeitarbeitslose/ Brüssel denkt nur an Wachstum  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Einer von sieben Europäern ist arm, das entspricht der gesamten Bevölkerung Frankreichs.“ Raf Chanterie ist besorgt — weniger wegen der Armen, ihm liegt vor allem die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft am Herzen. „Unsere Gesellschaft droht sich zu spalten“, warnt der französische Europaabgeordnete. „Auf der einen Seite befinden sich die Wohlhabenden, die vom EG- Binnenmarkt profitieren, auf der anderen Seite die davon Ausgeschlossenen.“ Verlierer im Binnenmarkt sind 50 Millionen Menschen, 15 Prozent der BürgerInnen einer der reichsten Regionen der Welt, und es werden immer mehr. Vor 14 Jahren waren es noch 30 Millionen, die — so die Definition für Armut — weniger als die Hälfte des in ihrem Land durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens bezogen. Der Anstieg der Armut wird zurückgeführt auf die mit dem Binnenmarkt einhergehende Umstrukturierung der Industrie, die viele Menschen zu Langzeitarbeitslosen gemacht hat.

Zwar erhöhte sich die Zahl der Arbeitsplätze von 1985 bis 1990 von 124 auf 132 Millionen. Doch dabei handelte es sich in erster Linie um prekäre Beschäftigungsverhältnisse, also um zeitlich befristete Arbeiten, um Teilzeitarbeit oder um Jobs ohne ausreichenden sozialen Schutz und mit geringer Entlohnung. Die Arbeitslosenquote ging gleichzeitig von 10,8 auf 8,3 Prozent zurück. Daß dies nur eine vorübergehende Tendenz war, merkten die Binnenmarkt-Strategen in diesem Frühjahr: Aufgrund beschleunigter Inflation und sinkendem Wirtschaftswachstum war im März die Quote wieder auf 9,5 Prozent gestiegen. Dies lag nicht nur an der katastrophalen Beschäftigungssituation in den neuen Bundesländern. Eng wurde es auch auf den Arbeitsmärkten in Portugal, Luxemburg und Holland sowie in geringerem Maß in Dänemark, Großbritannien, Frankreich und Belgien. Für 1993 — den eigentlichen Beginn des Binnenmarkts — rechnen die EG-Experten nun sogar mit einer Arbeitslosenrate von knapp 10 Prozent.

Der Anteil der Langzeitarbeitslosen nimmt kontinuierlich zu. Über die Hälfte der 17 Millionen Arbeitslosen in der EG sind seit mehr als einem Jahr ohne Beschäftigung, ein Drittel sogar länger als zwei Jahre. Der Beschäftigungsschub in der Vorbereitungsphase des Binnenmarkts ging an ihnen vorüber. Langzeitarbeitslosigkeit gilt als hausgemachtes Problem der EG. Neuerdings sind Männer stärker betroffen als Frauen und Ältere mehr als Jugendliche unter 25 Jahren. Generell benachteiligt sind ImmigrantInnen, die vom vorübergehenden Rückgang der Arbeitslosigkeit Ende der achtziger Jahre gar nicht profitieren konnten.

Wie können diese unerwünschten Auswirkungen des Binnenmarktprojekts bekämpft werden? Darüber machen sich in den EG-Institutionen viele Gruppen und Personen Gedanken. Viele Arme gefährden die Akzeptanz, das könnte den EG-Kritikern von rechts und links Auftrieb geben. Die EG-Kommission hat deshalb ein Anti-Armut-Programm eingerichtet. Es verfügt nur über ein geringes Budget von 110 Millionen Mark, das fünf Jahre reichen muß. Auf die 50 Millionen Armen verteilt, ergäbe dies die peinliche Summe von 44 Pfennigen pro Person im Jahr.

Stärker zu Buche schlagen könnten dagegen die knapp 40 Milliarden Mark aus den EG-Strukturfonds. Seit Anfang der siebziger Jahre bemüht sich die EG um den Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Gemeinschaft, dazu wurde 1975 der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) ins Leben gerufen. Daneben gibt es noch den Sozialfonds, mit dem die Arbeitslosigkeit in der EG bekämpft werden soll, und den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft. Die Gelder fließen vor allem nach Irland, Griechenland, Portugal, Spanien und Großbritannien, aber auch nach Bremen und neuerdings in die neuen Bundesländer. Nettozahler sind Deutschland, Großbritannien, die Beneluxstaaten und Dänemark. Für Italien und Frankreich halten sich Ein- und Auszahlungen die Waage. 1988 wurden die Fondsmittel verdoppelt, zugleich vertiefte sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Deswegen soll die innergemeinschaftliche Entwicklungshilfe erneut verdoppelt werden. Die Entscheidung darüber wird jedoch nicht in Kürze erwartet.

Die EG-Kommission überlegt nun, wie die Milliarden effektiver eingesetzt werden können. Dabei haben die Eurokraten vor allem den Sozialfonds im Auge, mit dessen Mitteln bislang zahllose EG-Hilfsprogramme nach dem Gießkannenprinzip zur „Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie der Integration der am meisten sozial benachteiligten Personen auf dem Arbeitsmarkt“ finanziert wurden. Die Gelder sollen nun auch für „die Erleichterung der Anpassung der Arbeitnehmer an industrielle Veränderungen und an die Entwicklung der Produktionssysteme“ vergeben werden. Dies mag plausibel klingen. Die bislang für die Arbeitslosenprogramme zuständigen Organisationen befürchten jedoch, daß Binnenmarktkommissar Martin Bangemann die Gelder großen Firmen krisengeschüttelter Branchen wie der Computer- oder Autoindustrie zur Verfügung stellen könnte. Diese sollen damit die Umschulung ihrer Arbeitnehmer bezahlen, um so der Konkurrenz aus Japan und den USA Paroli bieten zu können. Denn von wenigen Kritikern im Europaparlament und in der EG-Kommission abgesehen ist man in Brüssel immer noch davon überzeugt, daß nur starkes Wirtschaftswachstum die drei Geißeln der Neuzeit — Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltverschmutzung — beseitigen kann.