Schwierigkeiten mit Benjamin

Über einige Publikationen zum 100.Geburtstag von Walter Benjamin und den mißglückten Versuch, dem Denker ein Denkmal zu setzen  ■ Von Petra Kohse

Der Geburtstag Walter Benjamins, der sich heute zum 100.Mal jährt, hat dem Suhrkamp Verlag offenbar einiges Kopfzerbrechen bereitet. Ein Grund dafür mag sein, daß bereits der 50.Todestag vor nicht einmal zwei Jahren, am 26.September 1990, ein Anlaß zur allseitigen Würdigung seines kulturkritischen und philosophischen Werkes war. Am einfachsten ist es noch, Taschenbuchausgaben älterer Editionen herauszugeben, wie es mit einer Aufsatzsammlung von Gershom Sholem geschah. Eine andere Möglichkeit nutzte der zu Suhrkamp gehörende Insel Verlag, der Benjamins „Illustrierte Aufsätze“ aus den Gesammelten Werken in einem Taschenbändchen namens „Aussichten“ vereinte.

Etwas aufwendiger, wenn auch nur partiell geglückt, ist ein weiteres Suhrkamp-Projekt: die 1963 herausgegebene Sammlung der Benjaminschen „Städtebilder“ wurde durch zwei in Buchform bislang noch nicht veröffentlichte Texte ergänzt und mit Stadt-Fotografien der Wienerin Anna Blau aus den letzten Jahren angereichert. Was die neuen Texte, „Weimar“ (1928) und „Nordische See“ (1930) betrifft, so handelt es sich um Kleinodien, deren Publikation sehr zu begrüßen ist.

„Wie die Bewohner entlegener Bergdörfer einander bis auf Tod und Siechtum versippt sein können, so haben sich die Häuser vertreppt und verwinkelt“, schreibt Benjamin über das norwegische Bergen, und man meint, den Architektur gewordenen Kleinstadtmief förmlich zu riechen. Eine dichtere Atmosphäre als dieses Sprachbild kann kein Foto vermitteln, selbst dann nicht, wenn Motiv und Perspektive inspirierter gewählt wären, als das bei Anna Blaus Illustration der Fall ist: Meer, Boote, blankgeputzte und spitzgiebelige Häuser am Hang, zu allem Überfluß im strahlenden Sonnenschein — Norwegen wartet auf seine Gäste. Blau lichtete all das ab, worauf Benjamins Blick vermutlich nie verweilt hätte: einen zufriedenen Postkartenverkäufer, gußeiserne Ornamente an einem Tor, das elegante Interieur in einem Restaurant — aufgenommen in Marseille, Berlin, Moskau oder auch nur in einer einzigen Stadt, Schokoladenansichten allesamt.

Benjamin drang mit dem Blick des Fremden zum Wesentlichen der Städte vor, im Falle der eigenen Stadt, Berlin, beschwor er den Blick des Kindes, das er gewesen war, um diese Distanz zu gewinnen: „Als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen, erfordert andere, tiefere Motive. Motive dessen, der ins Vergangene statt in die Ferne reist“, schrieb er 1929 in einer Rezension über Franz Hessels „Wiederkehr des Flaneurs“.

Ein wirklicher Geburtstagsbeitrag ist dagegen die Publikation eines Essays von Hans Mayer über „Den Zeitgenossen Walter Benjamin“ im Jüdischen Verlag. Auf rund 70Seiten skizziert der Germanist Mayer, der Benjamin bereits am 18.Oktober 1940 in der Züricher Tat nachrief, die Werkgeschichte des großen „Schwierigen“, der sich jeglicher Kategorisierung dadurch zu entziehen wußte, daß er sich zwischen zwei Möglichkeiten entweder für beide oder keine entschied und beispielsweise als Jude sowohl mit dem Zionismus als auch dem Marxismus sympathisierte.

Mayer stellt Benjamin im Spannungsfeld der Einflüsse Hugo von Hofmannsthals und Brechts dar, schildert die Beziehungen und Differenzen zu Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie Ernst Bloch und faßt die Grundelemente Benjaminscher Kulturkritik prägnant zusammen: „Drei Positionen haben sich dialektisch ins Gegenteil verändert. Aufklärung ist abgelöst durch eine Welt ganzer und halber Faschismen, Fortschritt führt in den Untergang: das hatte Walter Benjamin als einer der ersten erkannt. Die Moskauer Wirklichkeit schien das nicht zu widerlegen. Die Moderne wird zum Ramsch in einem Zeitalter, das alles zu reproduzieren vermag.“

1933 emigrierte der Proust-Übersetzer Benjamin nach Paris. Als die Deutschen Frankreich besetzten, floh er weiter in die Pyrenäen. Von Spanien aus wollte er in die USA. Die spanischen Behörden verweigerten ihm in Port Bou die Einreise, am 26.September (nach manchen Quellen am 27.) beging er Selbstmord. „Jede Betrachtung“, schreibt Hans Mayer, „die sich Leben und Werk des Zeitgenossen Walter Benjamin als Thema wählt, fühlt sich sogleich konfrontiert mit einer der großen Katastrophen dieses Jahrhunderts: der ebenso grausamen wie törichten Vernichtung dessen, was man die ,deutsch-jüdische Symbiose‘ genannt hat.“

Vor dieser „Katastrophe“ kapitulieren trotz anfänglich guten Willens möglicherweise jetzt auch die deutschen Behörden. In Port Bou, wo an den Denker Benjamin bisher eine Plakette auf einem Massengrab sowie eine Gedenktafel an der Friedhofsmauer erinnern, wurden am 50.Todestag vier Betonplatten als Grundsteine einer „landart“-Skulptur des israelischen Künstlers Dani Karavan in den Boden eingelassen. Anwesend waren offizielle Vertreter Katalaniens, Spaniens, Israels und Deutschlands. Das bundesdeutsche Auswärtige Amt (AA) hatte diese Würdigung Benjamins initiiert und den Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute (AsKI) mit ihrer Realisierung beauftragt. Der Geschäftsführer des AsKI, Konrad Scheurmann, nahm Kontakt auf mit Karavan, im Sommer 1990 wurde mit dem AA der Etat von einer Million Mark mündlich vereinbart. Karavan machte sich an die Arbeit, im Herbst des darauffolgenden Jahres wurde das Projekt vom AA „zum erstenmal infrage gestellt“ (Scheurmann), Ende 1991 habe es dann jedoch wieder „Rückenwind“ gegeben. Dieser drehte sich leider rasch: der Bundesrechnungshof, der nach Angaben des AA erst bei den Haushaltsberatungen für das Jahr 1992 über den Benjamin-Etat informiert wurde, hielt die Summe nicht für vertretbar und sagte schlicht nein.

Am 12.Februar hetzte die Bild- Zeitung: „Fast eine Million für eine Grabplatte“, am 6.März wurde der damalige Außenminister Genscher in der Neuen Illustrierten Revue zu „Deutschlands schlimmsten Steuerverschwendern“ gezählt. Das Foto eines schlichten Grabsteins insinuierte, es handle sich dabei um das geplante Denkmal. Eine Richtigstellung erfolgte in der Boulevardpresse erwartungsgemäß nicht, aber auch nicht von seiten des AA — ein Sachverhalt, der Scheurmann besonders enttäuschte. Er hält es sogar für möglich, daß entsprechende Informationen an beide Sensationsblättchen „nicht ohne Absicht“ ergangen seien. Das Denkmal, das über die Person Benjamins ja an alle deutschen Exilanten erinnern sollte und dessen Einweihung für heute vorgesehen war, wird von offizieller Seite definitiv nicht finanziert, alle dahingehenden Vereinbarungen wurden für ungültig erklärt. Wie aus dem AA auf Nachfrage zögerlich verlautete, wolle man statt dessen eine Bronzeplatte in Port Bou anbringen, wann, war nicht zu erfahren. Aber eine Ausstellung gäbe es, wurde weiter mitgeteilt, für die immerhin 180.000 Mark etatisiert worden wären. Organisiert wird sie — wie erst nach einer internen Recherche im Pressereferat zu erfahren war — vom AsKI. Im Ministerium will man mit dem Thema Benjamin anscheinend nichts mehr zu tun haben.

Scheurmann indessen plant nach wie vor, das Karavan-Projekt zu realisieren. Zwar sei der Künstler jetzt „gestrichen sauer“, aber auf privater Ebene werde man versuchen, das Geld aufzutreiben. Er kann sich eine 1.000-mal-1.000-Mark-Förderung vorstellen, für die er ab Herbst werben will. Von heute bis zum 27.September ist in Port Bou jedenfalls eine Ausstellung zu Leben und Werk Walter Benjamins zu sehen. Im dortigen Rathaus wird die Zeit bis zum Exil in Fotos und Texten dokumentiert, im alten Zollhaus widmet sich die zweigeteilte Schau dem Schwerpunkt Exil und Tod. Begleitend ist bei Suhrkamp eine Publikation mit den ausgestellten Dokumenten, Essays und einer Beschreibung des Karavan-Entwurfes erschienen. Zu den Texten gehören auch Originalbeiträge von Winfried Menninghaus („Das Ausdruckslose: Walter Benjamins Metamorphosen der Bilderlosigkeit“), Walter Grasskamp („Der Autor als Reproduktion“) und Jordi Lovet („Benjamin Flaneuer: Das Passagen-Werk“).

Nach Port Bou wird die Ausstellung bis Januar 1993 in Kassel zu sehen sein, im Anschluß daran wandert sie nach Amsterdam. Sicher eine schöne Sache, aber im Kontext des Denkmal-Dilemmas nur ein schwacher Trost.

Sind diese offenkundigen Schwierigkeiten im Umgang mit Walter Benjamin politischer Natur? Scheurmann schließt das nicht aus. „Es wurde uns pauschal gesagt, es sei der Geldmangel. Das sagt man momentan aber bei allem.“

Deutschland will den Freigeist Benjamin, der 1939 wegen eines Aufsatzes in der Moskauer Zeitschrift Das Wort ausgebürgert wurde, auch an seinem 100.Geburtstag noch nicht in die Arme schließen. Bleibt nur zu hoffen, daß sich genügend private Geldgeber finden, um einen europäischen Denker zu ehren, den das offizielle Deutschland nicht verdient hat.

Gershom Sholem: „Walter Benjamin und sein Engel“. Suhrkamp tb, 1992, 221Seiten, 16DM.

Walter Benjamin: „Aussichten“. insel tb, 106Seiten, 12DM.

Walter Benjamin: „Städtebilder“. Fotografiert von Anna Blau, suhrkamp tb, 125Seiten, 24DM.

Hans Mayer: „Der Zeitgenosse Walter Benjamin“. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 24DM.

Ingrid und Konrad Scheurmann (Hg.): „Für Walter Benjamin“. Suhrkamp, 283Seiten, 42DM.