Kreditkarten auch für kleine Leute

In Rußland ist Bargeld knapp/ In St.Petersburg gibt es jetzt dennoch die ersten Bankautomaten  ■ Von Maxim Korschow

Wenn man die unendlichen Schlangen russischer Rentner betrachtet, die — in der Hoffnung auf Auszahlung ihrer Pension — in den Filialen der verschiedensten Sparkassen ausharren, scheint es, als stünden sie sich schon ein volles Jahr lang die Beine in den Bauch. Aber gerade an Bargeld fehlt es dort, wo sie es erwarten, und auch mit dessen Auftauchen ist in nächster Zeit kaum zu rechnen. Eine Million und zweihunderttausend St.Petersburger Omas und Opas stellen sich allwöchentlich bereits nachts an und schreiben sich ihre Nummer in der Reihe mit Tinte auf die Handfläche.

„Gucken Sie nur: meine Nummer ist erst 374“, vermeldet — den Tränen nahe — die 68jährige Rentnerin Galina Vikentjewna: „Jeden Tag komme ich her, und schon seit Monaten gibt es für mich kein Geld. Was kann ich noch tun? Wie soll ich weiterleben? Immerhin habe ich einen Sohn, der mir weiterhilft. Und was wird aus den Älteren, die alleinstehen? Wer hilft ihnen? Bestimmt sind sie bald tot!“

Der Mangel an Bargeld hat allen UdSSR- und russischen Regierungen in jüngster Zeit Sorgen gemacht, geklagt hatten darüber die Sowjet- Premiers Ryschkow und Pawlow — unter Gajdar aber überschritt es jedes Maß. Da half nicht einmal mehr das Drucken von neuen Scheinen — erstmals im Werte von 500 oder 1.000 Rubeln.

Über „elektronisches Geld“ wird in Rußland schon seit langem geflüstert und geraunt. Aber es blieb nicht beim Gerede — diverse Kreditkartensysteme, wie „Credo-Bank“ oder „Spacard“, breiten sich aus. Ihre Initiatoren haben schon Verbindungen zu den Firmen „Visa International“ und „American Express“ aufgenommen. Doch sie arbeiten fast ausschließlich für die neuen kommerziellen Banken und Börsen — also für jene Leute, die teure Westwagen fahren und mit Millionen von Rubeln und Dollars jonglieren. Nun sind die ersten Geldautomaten für die Kunden der St. Petersburger Filialen der „Sparbank Rußlands“ eingeführt worden.

„Wir haben für fast 50.000 US- Dollar elektronische Rechnungs- und Auszahlungsanlagen bei der französischen Firma „Bull“ gekauft — einem Pionierunternehmen auf diesem Gebiet“, erzählt Leonid Schatz (38), stellvertretender Vorsitzender der Bank in St.Petersburg. „In unseren Niederlassungen ist schon alles dementsprechend eingerichtet. Bald werden auch unsere Terminals im „Narvski“ funktionieren, dem ersten Kaufhaus, in dem unsere Kunden dann bargeldlos einkaufen können. Technologie und Programme für uns hat das Joint-venture „Ilka“ ausgearbeitet. Leider wollen unsere westlichen Partner uns nicht ihre allerneuesten Errungenschaften verkaufen. Da müssen wir uns selbst ins Zeug legen!“

Schatz und sein Team wollen das System der bargeldlosen Zahlung über die gesamte Fünfmillionenstadt verbreiten. Allerdings fühlen sie sich bei dieser Aufgabe alleingelassen. „Da helfen uns weder die Regierung noch das Bürgermeisteramt, noch der Stadtsowjet, obwohl ihnen der Bargeldmangel nicht egal sein sollte“, klagt Leonid Schatz. „Sonst wird sie nämlich das Volk, das weder an seine Gehälter noch an seine Renten herankommt, von ihren Sesseln fegen!“

Im Kirow-Bezirk, in der Filiale der „Sparbank Rußlands“ auf dem Lenin-Prospekt, sind die ersten beiden Abrechnungsterminals aufgestellt. Sie tragen die Nummern 0001 und 0002. Bisher funktioniert nur einer von beiden. „Zu unserem Leidwesen haben wir bisher nur 45 Kunden für diese Art von Zahlungsverkehr“, sagt die Hauptbuchhalterin Sinaida Achpaltschenkowa (45). Der letzte, der einen Vertrag bei uns unterschrieben hat, war der Kontaktbereichs-Milizionär unseres Viertels.“ Das Kärtchen kostet 100Rubel und ist zwei Jahre gültig. Auch wenn man noch soviel Geld auf dem Konto hat, darf man am Tag nicht mehr als 2.000Rubel abheben.

Die Buchhalterin Sinaida holt ihr eigenes Kärtchen hervor und steckt es in den Bargeldautomaten. Auf dem Bildschirm erscheinen die Worte: „Warten Sie bitte.“ Und dann: „Wählen sie die Summe!“ Sinaida gibt einen Betrag von 200 Rubel ein und bekommt das Geld prompt ausgespuckt. Die Scheckkarten entsprechen ganz dem westlichen Muster. Sie wurden schon vor einem Jahr produziert — noch vor Umbenennung der Stadt. So heißt es auf der Vorderseite: „Sparbank der Stadt Leningrad“.

In der Filiale im Kirow-Bezirk haben sich etwa 150 Menschen um die Geldautomaten geschart — alte Leute, die sich die Wartezeit auf ihre Rentenauszahlung an der herkömmlichen Kasse damit vertreiben, diese Dinger mit Mißtrauen zu beäugen. „Jetzt machen sich auch hier schon diese Spielautomaten breit, nirgendwo ist man mehr vor ihnen sicher“, schimpfen sie. Sinaida spricht mit ihnen: „Was haltet Ihr denn von den Geldautomaten? Ihr könnt Euch doch nun Eure Pension aufs Konto überweisen lassen und ohne jedes Schlangestehen Euer Geld abholen. Schließlich ist das Kärtchen nicht teuer — nur 100Rubel!“

Eine alte Frau antwortet: „Hau ab, und mach Dich nicht über uns lustig! Was sind das denn für Automaten! Schließlich stehen wir hier schon einen ganzen Monat an, ohne eine Kopeke zu sehen zu bekommen. Bald verrecken wir ohnehin!“ Sinaida versucht es noch einmal: „Aber das ist doch für Euch eingerichtet worden, damit Ihr es bequemer habt!“ Der Rentner Wassili Suchanov (63) sagt: „Natürlich ist mir klar, daß das im Grunde genommen etwas ganz Tolles ist. Aber toll ist das alles nur bei den Kapitalisten. Börsen, Makler, Kreditkarten — entspricht das etwa den Realitäten unseres Lebens hier?“

Anm. d. Übers.: Bis vor kurzem betrugen die niedrigsten Renten in Rußland noch um 250 Rubel (etwa der aktuelle Preis für zwei Kilo Fleisch plus ein Liter Milch, zwei Kilo Kartoffeln und ein paar Möhren und Kräuter). Demnächst will die russische Regierung die Mindestrente auf 9.000 Rubel festsetzen. Wo die Spirale endet, ist noch unbekannt.

Übers.: Barbara Kerneck