MIT DER ERSCHÖPFUNG AUF DU UND DU
: Tod bei Mitsui

In Japan kann Arbeiten lebensgefährlich sein  ■ Aus Tokio Georg Blume

Für Japans Busineß-Nomenklatura war es eine empfindliche Niederlage. Den Angehörigen des verstorbenen Abteilungsleiters Jun Ishi aber wurde ein Sieg zuteil, der allen Angestellten des Landes Vertrauen schenken dürfte. Zum ersten Mal nämlich erkannte die Tokioter Arbeitskontrollbehörde am Dienstag den Tod eines Angestellten einer großen Firma als sogenannten „Erschöpfungstod“ (Karoshi) an.

Das Karoshi-Phänomen jagt Japans Beschäftigten seit einigen Jahren Angst und Schrecken ein: Aus medizinisch unerklärbaren Gründen, die in den meisten Fällen auf schlichte Überarbeitung im unbarmherzigen japanischen Büroalltag zurückzuführen waren, haben Hunderte von Angestellten ihr Leben verloren.

Bislang wurden Karoshi-Fälle jedoch nur in Kleinbetrieben offiziell anerkannt, wo der einzelne Unternehmer schnell in Rechtfertigungszwänge kommt. Jetzt aber stellte die japanische Arbeitskontrollbehörde eine der größten Unternehmensgruppen der Welt ins Rampenlicht: Jun Ishi arbeitete beim Handelsriesen Mitsui-Bussan. Dort besetzte er bis zu seinem Tod eine leitende Funktion für den Maschinenexport in die ehemalige Sowjetunion. Für das führende Handelshaus der Mitsui-Gruppe birgt die Anerkennung des Erschöpfungstods zweifellos einen herben Imageverlust — nicht nur in Japan. Denn längst ist Karoshi international zum Inbegriff für die stellenweise unmenschlichen Arbeitsverhältnisse im zweitreichsten Industrieland der Welt geworden.

Bisher meldet die Tokioter Arbeitskontrollbehörde etwa 30 Karoshi-Fälle pro Jahr. Doch diese Zahl ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn in den wenigsten Fällen läßt sich ein plötzlicher Herzinfarkt, von dem die Erschöpfungsopfer in der Regel getroffen werden, im nachhinein als Arbeitsunfall darlegen. Daß sich die Arbeitskontrolleure im Fall Jun Ishi dennoch an Mitsui heranwagten, liegt an der seltenen Deutlichkeit der Beweise.

Jun Ishi, der am 15.Juli 1990 mit 47 Jahren einem plötzlichen Herzanfall erlag, hatte zuvor in seinem Leben keinerlei Gesundheitsschäden aufgewiesen. Allein im ersten Halbjahr 1990 hatte er achtmal nach Moskau reisen müssen und war während dieser Zeit auch in Japan ständig unterwegs. Da er als einziger auf seinem Gebiet gut Russisch sprach, nahm er bei allen Kontakten mit Moskau zusätzlich Dolmetscherfunktionen wahr — meist bis spät in die Nacht. Zwei Tage vor seinem Tod berichtete Ishi seiner Familie: „Mein Körper ist völlig am Ende.“

Der Fall Ishi ist insofern typisch, als er zeigt, wie die für Japan übliche Selbstaufopferung am Arbeitsplatz unter außergewöhnlichen Umständen direkt ins Verderben führt. Ishi stand durch die historischen Veränderungen in Moskau unter besonderer Belastung. Doch dann gab es nichts — weder das Arbeitsrecht noch die Aufsicht der Firma, nicht einmal die besorgte Familie —, das den Arbeitswahn Ishis aufhalten konnte. Daß Mitsui heute von Staats wegen angehalten wird, für Ishis Tod Verantwortung zu tragen, ist ein vor Jahren in Japan kaum denkbarer Fortschritt.