Europäische Wegwerf-Gemeinschaft

Die neue Brüsseler Verpackungsrichtlinie dient eher dem Schutz der Industrie als dem der Umwelt  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Süßsäuerlich kriechen sie über die Zunge, beißen sich an den Schleimhäuten fest — Dioxine, Furane und sonstige Gifte kratzen bei bestimmten Wetterlagen in Hals und Nase. Resultat Brüsseler Wohlstands, der — einmal ausrangiert — im Norden der Stadt verbrannt wird: Nicht, wie man vielleicht meinen könnte, dem Ruf der Stadt entsprechend auf freier Flur, weil sich die Bewohner von Europas inoffizieller Hauptstadt ja auch noch keine Kläranlage für ihre Abwässer geleistet haben. Nein, ihre Abfälle lassen Brüsseler und Eurokraten gleichermaßen in einer hochmodernen Müllverbrennungsanlage verfeuern — allerdings fehlen wichtige Filter, was den giftigen Niederschlag zur Folge hat.

Außer einigen Umweltgruppen scheint sich niemand daran zu stören. Kein Wunder also, daß sich die Eurokraten das System zum Vorbild für ihre EG-weite Müllpolitik genommen haben. Nach jahrelangem Tauziehen hinter den Kulissen stellte der neuerdings übergangsweise nicht nur mit Konsumenten-, sondern auch mit Umweltschutz beauftragte EG- Kommissar Karel van Miert gestern in Brüssel eine Verpackungsrichtlinie vor. Damit, so die Grüne Europaabgeordnete Hiltrud Breyer, fördere er jedoch vor allem die Betreiber von Müllverbrennungsanlagen in der EG: „Das Kürzel EWG kann in Zukunft getrost mit Europäische Wegwerf-Gemeinschaft übersetzt werden.“ Zarte Ansätze zu einer Politik der Müllvermeidung würden zugunsten der Freiheit des Warenverkehrs und damit der vermehrten Produktion von Verpackungen geopfert.

Über 50 Millionen Tonnen Müll werfen EG-BürgerInnen (50Prozent), Handel (30Prozent) und Industrie (20Prozent) jährlich weg. Davon werden lediglich neun Millionen Tonnen wiederverwertet. Verpackungen, so die EG-Kommission, tragen dabei überproportional zur Müllflut bei. Von den 14 Millionen Tonnen Abfall, die zum Beispiel in bundesdeutschen Haushalten jährlich anfallen, seien knappe vier Millionen Tonnen Verpackungsmüll: leere Flaschen, Dosen und Kartons. Vorschriften zur Vermeidung oder zum Recycling von Verpackungen würden bislang nur in einigen Mitgliedsländern wie Dänemark oder Deutschland bestehen. Aktiv wurden die Eurokraten allerdings nicht, weil diese zu lasch ausgefallen sind, sondern wegen der dadurch möglicherweise verursachten Beeinträchtigung des freien Handels im künftigen Binnenmarkt. Die deutsche Verpackungsverordnung nennt die Kommission als Beispiel dafür, daß einzelstaatliche Vorschriften ausländische Anbieter benachteiligen könnten. Ob sie verändert werden muß, wird zur Zeit noch in Brüssel überprüft. Denn das neue Gesetz soll für alle in der Gemeinschaft in Verkehr gebrachten Verpackungen gelten, unabhängig davon, in welchem Land und welchem Bereich sie anfallen.

Kernpunkt der Richtlinie: Frühestens zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes sollen die Mitgliedstaaten dafür sorgen müssen, daß 90Prozent aller Verpackungsabfälle verwertet werden. Ob sie diese von der Industrie als übertrieben ehrgeiziges Ziel bezeichnete Vorgabe schon vorher erreichen wollen, bleibt den Mitgliedstaaten überlassen. Außerdem umfaßt der Begriff „Verwertung“ auch die „thermische Nutzung“, landläufig als Verbrennen bekannt. Sie ist zwar nach Ansicht van Mierts möglichst zu vermeiden, weil sie „zu ernsthaften Bedenken Anlaß gibt“. Dennoch dürfen bis Anfang des nächsten Jahrtausends weiterhin alle Verpackungsabfälle verbrannt werden. Selbst danach können noch immer bis zu 30Prozent der „thermischen Wiederverwertung zugeführt werden“.

Erhöhte Dioxinbelastung und hochgiftiger Schlackenmüll seien die Folgen dieser Politik, warnen die Grünen. Denn effektive Vorgaben zur Reduzierung von Schwermetallen in Verpackungen seien nicht vorgesehen. Die Grenzwerte für Cadmium und Quecksilber, so Hiltrud Breyer, seien ökologisch inakzeptabel. Für andere Schadstoffe seien sie auf Druck der Industrielobby ganz fallengelassen worden. Durchgesetzt wurde auch, daß die Kommission in ihrem Vorschlag zwar von „Zielhierarchien“ spricht, bei der die „Abfallvermeidung“ sowie die „qualitative Verbesserung des Verpackungsabfalls“ an erster Stelle stehen müßten; Mengenziele hinsichtlich des Abfallaufkommens insgesamt werden aber nicht mehr genannt. In einem früheren Entwurf war immerhin noch eine Stabilisierung auf dem Niveau von 1990 verlangt worden.

Auch die ökologisch sinnvolle Unterscheidung zwischen Mehrwegsystemen und zurückgenommenen Einwegverpackungen findet nicht statt, obwohl die Energieeinsparung beim Glasrecycling unverhältnismäßig niedriger ist als bei der Mehrweg-Glasflasche.

Andreas Golding vom Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland kritisiert denn auch, daß der Vorschlag ausschließlich dem Schutz der wirtschaftlichen Interessen von Industrie und Handel diene „mit dem erklärten Ziel, die Bestimmungen der bundesdeutschen Verpackungs-Verordnung zu unterlaufen und weitergehende Veränderungen wie die Mehrwegverordnung zu verhindern“.

Ironie am Rande: Dem Grünen Punkt, von deutschen Umweltorganisationen immer als Mogelpackung kritisiert, droht die Entsorgung. Statt seiner will die Kommission spätestens in fünf Jahren eine EG-weite Kennzeichnungspflicht einführen, „um die Wierderverwendung und Verwertung von Verpackungen und Verpackungsabfällen zu erleichtern“. Dazu sollen die Mitgliedstaaten gleichzeitig Rückgabe- und Entsorgungssysteme einrichten. Diese müssen dann auch für Importprodukte gelten, dürfen also nicht — wie angeblich der Grüne Punkt — die ausländische Konkurrenz benachteiligen.