Die traurige Bilanz von 50 Jahren Atomzeitalter

■ Die zweite Weltkonferenz der Strahlenopfer tagt im September im Reichstag/ Prekäre Finanzlage zwingt zur Suche nach Sponsoren/ Senat hält die Veranstalter hin/ Gäste wollen über Nuklearschäden in der ehemaligen Sowjetunion informieren

Berlin. »Und sie wird stattfinden, ob mit oder ohne öffentliche Unterstützung«, so der Präsident der Berliner Ärztekammer, Ellis Huber, auf der gestrigen Pressekonferenz im Haus der Kulturen der Welt. Gemeint ist die Zweite Weltkonferenz für Strahlenopfer, die für den Herbst 92 im Reichstag geplant ist. Weil aber die finanzielle Situation noch immer — drei Monate vor der Veranstaltung — alles andere als klar ist und die Hinhaltetaktik des Senats in Sachen Kongreßförderung vermuten läßt, daß der Stadt jeder Taubenzüchterkongreß willkommener ist als eine Konferenz von Strahlenopfern, ging man auf die Suche nach Sponsoren und Förderern. Die Berliner Ärztekammer ist eine der wenigen Institutionen, die den Kongreß auch finanziell unterstützen. Daneben kamen unter anderem Gelder von den Umweltministerien Niedersachsens und Hessens. Daß das Land Berlin sich so wenig engagiert, ist bedauerlich, so Stephan Dömpke, Generalsekretär der Konferenz, denn »die Atombombenversuche weltweit sind Relikte und Folgen des Kalten Krieges, der sich besonders in Berlin verheerend ausgewirkt hat«. Er wolle nicht politisch Stimmung machen, ihm gehe es um diejenigen, die unter den Folgen von Strahlung zu leiden haben, unabhängig, ob als Folge militärischer oder ziviler Forschung.

Betroffene, Wissenschaftler, Politiker und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen will man im Herbst nach Berlin einladen. Hundert davon werden aus der ehemaligen Sowjetunion kommen und die neuesten Informationen über das Ausmaß der Schäden durch radioaktive Strahlung mitbringen, viele Strahlenopfer werden zu Wort kommen. Wesentliches Ziel der Konferenz wird — neben dem Aufbau einer unabhängigen Strahlenschutzkommission — der verbesserte rechtliche Schutz von Strahlenopfern sein. Man hofft, internationale Gesetze für die Entschädigung von Strahlenopfern auf den Weg zu bringen.

1987 hatte es zum erstenmal eine solche Konferenz in New York gegeben, initiiert von Überlebenden aus Hiroshima und Nagasaki, unterstützt von einem breiten Bündnis von Atomkraftgegnern und Umweltschützern aus allen Teilen der Welt. Bei dieser ersten Weltkonferenz lag der Schwerpunkt der Information auf den ethnischen Minderheiten und besonders bedrohten Völkern wie den Cree-Indianern in Kanada, deren Lebensexistenz durch den Uranabbau fast vernichtet wurde.

Die zweite Weltkonferenz der Strahlenopfer in diesem Jahr in Berlin wird zum erstenmal eine wirklich weltumspannende Dimension bekommen. Eine traurige Bilanz aus fünfzig Jahren Atomzeitalter, mit gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Folgen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Daß Informationsaustausch über die Folgen der atomaren Schäden der allererste Schritt sein muß, um zu einem veränderten Bewußtsein zu kommen, zeigt sich am Beispiel der Bewegung Nevada-Semipalatinsk, einem amerikanisch-russischem Aktionsbündnis gegen Atomkraft und Atombombenversuche. Spontan entschlossen sich die Gegner nuklearer Energie dieser ehemals verfeindeten Supermächte 1989 zu gemeinsamem Handeln, zunächst gegen die Atombombenversuche in Kasachstan. Und — sie waren erfolgreich. So erfreulich das ist, Kasachstan wird auf unabsehbare Zeit an den Folgen der jahrzehntelangen Atombombentests zu leiden haben. 800 hat man dort insgesamt durchgeführt, eine halbe Million Menschen sind radioaktiv verstrahlt. »Über 1.800 Atombombentests haben Teile unserer Erde für immer unbewohnbar gemacht«, heißt es im Informationspapier der Gesellschaft für eine nuklearfreie Zukunft, die den Kongreß mit großem persönlichen Engagement vorbereitet. »Mörderische Geheimhaltung hat Millionen Ahnungslose verseucht oder getötet. Getroffen hat es meistens die Ärmsten der Armen, die Kinder und die unterdrückten Völker. Sie haben keine Lobby, und darum dringt auch von ihrem Schicksal so wenig an unser Ohr. Wir stehen in der Verantwortung für die Strahlenopfer. Vielleicht hilft uns das Bewußtsein dabei, daß wir bereits zu ihnen gehören können, ohne es zu wissen. Eine Technologie, die unser aller Leben ins Kalkül zieht, dürfen wir nicht hinnehmen.«

Die Gesellschaft für eine nuklearfreie Zukunft bittet dringend um Spenden für den Kongreß. Die Spenden sind steuerlich absatzfähig: Gesellschaft für eine nuklearfreie Zukunft, Hochstädter Straße 3, 1 Berlin 65, 4554691, Spendenkonto: Berliner Sparkasse, BLZ 10050000, Konto: 0350011222. Marie Wildermann